JULIA GOLD Band 32
nichts antun könne. Ja, sie hatte ihn sogar herausgefordert, hatte ihn verhöhnt und gesagt, er könne ihr nicht schaden, weil er nicht genug Macht besitze. Meine Güte. Was hatte sie getan?
Hilflos grub sie ihre Nägel in die Handinnenflächen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr war so kalt. Und sie hatte Angst. „Was weißt du bisher?“
„Ben ist gestern Abend nach der Hochzeitsfeier entführt worden. Das Kindermädchen hat sein Bad eingelassen und ihm den Rücken zugedreht. Als sie Ben in die Wanne setzen wollte, war er fort.“
Fort. Das Wort beschwor totalen Horror herauf. Fort. Entführt. Ihr kleiner Sohn.
Ihr Kopf war völlig leer. Schließlich, nach einem langen Moment des Schweigens, stammelte sie: „Woher weißt du, dass es Amin war? Woher weißt du, dass Ben nicht weggelaufen ist? Dass er nicht durch irgendeine offene Tür entwischt ist?“
„Wir haben Beweise.“
„Was für Beweise?“ Sie wollte die Wahrheit wissen. Meine Güte, hier ging es nicht um einen verlorenen Schlüsselbund, sondern um ihr Kind.
„Amin hat eine Nachricht hinterlassen.“ Kahlil furchte finster die Stirn. „Sie war etwas rätselhaft. Ergab keinen rechten Sinn. Wir müssen einfach geduldig sein und abwarten, was die Nachforschungen meiner Männer ergeben.“
Wenn er gehofft hatte, sie damit zu beruhigen, dann hatte er sich getäuscht. Seine Worte lösten eine noch größere Panik in ihr aus. Ihr war übel. „Sag es mir, Kahlil. Ich will es wissen. Ich muss es wissen.“
„Die Nachricht war kurz. Und, wie ich schon sagte, rätselhaft. Amin schrieb, dass er sich nimmt, was ihm gehört. Das war alles.“
„Dann wissen wir also gar nicht genau, ob er Ben wirklich hat. Vielleicht meint Amin etwas ganz anderes.“
„Nein.“ Kahlil presste die Lippen zusammen. „Die Überwachungskameras haben aufgezeichnet, wie er Ben aus dem Kinderzimmer getragen hat.“
„Nein! Sag mir, dass das nicht wahr ist, Kahlil …“
Kahlil zog Bryn an sich und wiegte sie tröstend in seinen Armen. „Ganz ruhig, Laeela, wir werden sie finden. Wir haben unseren Sohn bald wieder bei uns. Ich schwöre es.“
Der Hubschrauber brachte sie zurück nach Tiva. Er landete im Hof des Palasts. Der Luftzug der Rotorenblätter wirbelte die Palmenwedel auf.
Ein farbenfroher Kolibri flog an ihren Köpfen vorbei und setzte sich auf einen der großen Terrakottatöpfe mit den herrlich blühenden Hibiskuspflanzen, die den Eingang schmückten. Bryn blieb eine Sekunde stehen, um zu beobachten, wie der Vogel sein Köpfchen in die große Blüte steckte. So wie der Kolibri unfähig war, dem süßen Nektar zu widerstehen, so konnte sie Kahlil nicht widerstehen.
Und das Resultat dieser Leidenschaft und Liebe? Geheimnisse, Lügen, ein entführtes Kind.
Es war kaum zu ertragen.
Kahlil legte sanft die Hand an ihren Rücken und führte sie durch die riesige Eingangstür. Er geleitete sie zu ihrer Zimmerflucht. Am Eingang zum Harem blieb er stehen. Er küsste sie und versprach: „Ich sage dir sofort Bescheid, wenn ich etwas Neues weiß.“
Er strahlte Zuversicht und Stärke aus, und sie fand Trost in seiner Nähe. Mit Kahlil an ihrer Seite war es einfacher, diese schrecklichen Stunden zu überstehen. „Ich will nicht allein sein“, flehte sie und hielt ihn fest. „Lass mich bei dir bleiben.“
„Dies ist eine Angelegenheit der Staatssicherheit. Ich habe eine Unterredung mit meinen Beratern. Es ist besser, du bleibst hier.“
„Das ist nicht besser für mich. Ich habe Angst.“
„Bryn, vertrau mir.“ Er löste ihre Hände von seinen Schultern und lächelte ihr aufmunternd zu, obwohl die tiefen Falten um seine Augen etwas anderes verrieten. „Ich verspreche, dir jede Neuigkeit sofort zu berichten. Versuch, dich ein wenig auszuruhen. Du brauchst es.“
Lalia brachte ihr etwas Leichtes zu essen, was Bryn jedoch nicht anrührte. Sie konnte nichts hinunterbringen. Sie konnte nur an Ben denken.
Minuten wurden zu Stunden. Die Warterei wurde zur Qual. Zwei Stunden. Drei Stunden. Ihr Rücken schmerzte, ihr Kopf tat weh. Ihre Augen waren gerötet von zu wenig Schlaf und zu viel Tränen.
Vier Stunden vergingen. Bryn begann, am ganzen Körper zu zittern. Ihr war kalt. Sie hatte das Gefühl, im nächsten Moment zusammenzubrechen.
„Sie müssen schlafen“, sagte Lalia leise, zog die Bettdecke zurück und dimmte die Nachttischlampe. „Legen Sie sich hin. Ruhen Sie sich ein wenig aus.“
Aber Bryn konnte nicht schlafen. Sie verbrachte die Nacht
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