Julia Liebeskrimi Band 09
Plötzlich verschwand es aus ihrem Blickfeld.
„Hey!“
„Halten Sie durch, ich komme runter.“
Er nahm seinen Hut ab, band sich das Seil wie ein Bergsteiger um die Taille und machte sich dann an den Abstieg. Nur wenig später war er neben ihr. Schwarze zerzauste Haare. Ruhige blaue Augen in einem sonnengebräunten Gesicht. Breite, beruhigend muskulöse Schultern. Alles in allem wirkte er groß, stark und wunderbar kräftig gebaut.
Auf den zweiten Blick war Sydney sich nicht mehr so sicher, ob groß und kräftig wünschenswerte Körpermerkmale bei einem Mann waren, dessen einzige Verbindung mit dem festen Boden ein gedrehtes Hanfseil war. Sie schluckte und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, während er, mit seinen Stiefelspitzen in der Felswand abgestützt, mit einer Hand lässig eine Schlaufe in das Seilende schüttelte, das hinter ihm baumelte.
„Kopf runter. Ich werfe jetzt das Seil über Sie.“ Er sprach langsam, seine tiefe Stimme klang ruhig und zuversichtlich. „Lassen Sie rechts jetzt ganz kurz los. Gut. Geht es? Okay, jetzt links. Ruhig. Ganz ruhig.“
Die Schlaufe glitt an ihrem Oberkörper nach unten, zog sich um ihre Taille zusammen und nahm ihr fast die ganze Luft. Der harte muskulöse Arm des Fremden, der sich um sie legte, gab ihr den Rest.
„Ich habe Sie. Lassen Sie jetzt los. Dann klettern wir zusammen nach oben. Sind Sie bereit?“
Selbst mit dem Seil und dem muskulösen Arm um ihre Taille war es ein beträchtlicher Vertrauensbeweis, den Baumstamm loszulassen. Sie schluckte schwer.
„Keine Angst. Ich lasse Sie nicht fallen.“
Sie bewerkstelligte ein zittriges Lachen. „Versprochen?“
„Ich stehe zu meinem Wort.“ Sein warmer Atem strich über ihr Ohr.
Sie hoffte es. Sie hoffte es wirklich.
„Bereit?“
Sie atmete tief durch. „Bereit.“
Sie kraxelten an der Felswand nach oben, ihr Po drückte sich in seinen Bauch, seine Arme waren fest um ihren Oberkörper geschlungen. Fünf Schritte, sieben, acht, dann eine Hand auf ihrem Hinterteil und ein kräftiger Schubs.
Sydney flog bäuchlings über den Rand. Keuchend robbte sie auf Händen und Knien noch ein Stück weiter, bis sich der Boden fest genug anfühlte, dass sie es wagen konnte, sich umzudrehen. Sie streckte ihrem Retter eine Hand hin, doch ihr Arm war immer noch so taub, dass er sofort wieder herunterfiel.
Nicht, dass er den Eindruck erweckt hätte, Hilfe zu benötigen. Ein geschmeidiger Klimmzug, und er hatte leidlich festen Boden unter den Füßen. Er trat ein paar Schritte von dem abbröckelnden Rand zurück, befreite sie beide von dem Seil und schlenderte dann zu dem Jeep, an dem er das andere Ende befestigt hatte. Sydney gab ein erfreutes Krächzen von sich, als er einen Moment später mit einer Flasche Wasser vor ihr in die Hocke ging. Sie trank gierig, dann setzte sie die Flasche ab und holte tief Luft. Nach ein paar weiteren Schlucken war ihre Kehle wieder so weit offen, dass sie ohne zu krächzen sprechen konnte.
„Danke … für das Wasser und die Rettung.“
„Keine Ursache.“ Er griff nach seinem schon etwas mitgenommen wirkenden Strohstetson und klopfte ihn an seinem Oberschenkel aus, bevor er ihn wieder aufsetzte. „Sicher, dass Sie sich nicht ernsthaft verletzt haben?“
„Ja. Nur ein paar Schürfwunden und einige blaue Flecke.“
Nachdem er sie eingehend von Kopf bis Fuß gemustert hatte, nickte er, als wolle er ihrer Diagnose zustimmen, dann sagte er: „Ich habe das Wrack unten im Canyon gesehen. Was ist denn passiert?“
Sie berichtete ihm, wie es zu dem Unfall gekommen war, und schloss mit einem etwas zittrigen Lächeln: „Also, wenn die Föhre nicht gewesen wäre … sie bremste meinen Fall. Wie heißt es doch gleich in diesem Gedicht, in dem die unvergleichliche Schönheit eines Baumes besungen wird?“
„Tut mir leid, da muss ich passen.“ Er musterte sie unter der Krempe dieses ramponierten Huts hervor, und sein Gesicht wirkte nun, da sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, deutlich weniger beruhigend auf sie. „Sie sind eine glückliche Frau.“
Sie wollte eben entgegnen, dass nicht jeder jemanden, der die Nacht über einem schwindelerregenden Abgrund verbracht hatte, als glücklich bezeichnen würde, als seine nächste Bemerkung diesen Gedanken unter sich begrub.
„Und verdammt blöd.“
„Wie bitte?“
„Die meisten Leute hätten mehr Verstand, als mitten in der Nacht bei einem Gewitter auf einer engen Passstraße am Rand eines Canyons
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