Julia Quinn
Zumindest nicht ihr gegenüber. Er missbilligte die Männer,
die sie umwarben, aber niemals Honoria.
Sie verschränkte jetzt ebenfalls die Arme und sah ihn verärgert
an. Er hatte den Eindruck, dass sie überlegte, ob sie seine Bemerkung als
Entschuldigung interpretieren sollte. Obwohl sie gar keine gewesen war.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte er, sorgsam auf
seine Worte – und seinen Tonfall – bedacht.
»Nein«, erwiderte sie lakonisch. Und
dann: »Danke.«
Er seufzte müde und dachte, es sei wohl an der Zeit, die Taktik zu
ändern. »Honoria, du hast keinen Vater mehr, dein Bruder hält sich – unseres
Wissens – irgendwo in Italien auf, und deine Mutter möchte sich nach Bath
zurückziehen.«
»Worauf willst du hinaus?«, stieß sie
wütend hervor.
»Du bist allein auf der Welt«, erwiderte er beinahe ebenso
bissig. Er konnte sich nicht entsinnen, wann ihm gegenüber das letzte Mal ein
solcher Ton angeschlagen worden war. »Oder so gut wie.«
»Ich habe Schwestern«, protestierte sie.
»Hat eine von ihnen angeboten, dich
aufzunehmen?«
»Natürlich nicht. Sie wissen, dass ich bei
Mutter lebe.«
»Die sich nach Bath zurückziehen will«,
erinnerte er sie.
»Ich bin nicht allein«, beteuerte sie mit leidenschaftlicher
und, zu seinem Entsetzen, tränenerstickter Stimme. Doch falls sie tatsächlich
kurz davor war, in Tränen auszubrechen, wusste sie das geschickt zu
unterdrücken. Als sie weitersprach, klang sie nur noch zornig und entrüstet.
»Ich habe haufenweise Cousinen. Haufenweise. Und vier Schwestern, die mich
sofort bei sich aufnehmen würden, wenn sie es für nötig hielten.«
»Honoria ...«
»Und ich habe einen Bruder, selbst wenn wir nicht wissen, wo er
sich gerade aufhält. »Ich brauche ...« Sie unterbrach sich und blinzelte,
als hätten sie die Worte überrascht, die sich auf ihre Zunge drängten.
Doch sie sprach sie trotzdem aus. »Ich
brauche dich nicht.«
Darauf trat eine schreckliche Stille ein. Marcus dachte nicht in
all die Mahlzeiten, die er mit ihrer Familie eingenommen hatte. Oder die Krippenspiele,
in denen er immer einen Baum gespielt hatte. Sie waren grässlich gewesen, ohne
Ausnahme, aber er hatte jeden blättrigen Augenblick geliebt. Die Hauptrollen
hatten ihn nie gereizt – er war erleichtert, dass er nie etwas zu sagen
brauchte –, aber er hatte furchtbar gern mitgemacht. Er war so gern dort
gewesen. Bei ihnen. Der Familie.
Aber daran dachte er jetzt nicht. Er war sich jedenfalls ziemlich
sicher, dass er nicht an all das dachte, als er das Mädchen anstarrte, das ihm
eben gesagt hatte, sie brauche ihn nicht.
Und vielleicht brauchte sie ihn auch nicht.
Vielleicht war sie kein Mädchen mehr.
Verdammt.
Er stieß den Atem aus und sagte sich, dass es keine Rolle spielte,
was sie von ihm hielt. Daniel hatte ihn gebeten, auf sie aufzupassen, und genau
das wollte er tun.
»Du brauchst ...« Er seufzte und überlegte sich, wie er es formulieren
könnte, ohne sie noch mehr zu erzürnen. Schließlich musste er sich eingestehen,
dass das wohl nicht möglich war, und so sprach er es einfach aus. »Du brauchst
Hilfe.«
Sie wich ein Stück zurück. »Dienst du dich etwa als mein Vormund
an?«
»Nein«, entgegnete er heftig. »Nein, glaub mir, das ist das
Letzte, was ich wollte.«
Sie verschränkte die Arme. »Weil ich so eine
Plage bin.«
»Nein.« Lieber Himmel, wie hatte diese Unterhaltung so rasch
entgleiten können? »Ich versuche lediglich, dir zu helfen.«
»Ich brauche keinen zweiten Bruder«,
erwiderte sie scharf.
»Das will ich ja auch gar nicht sein«, sagte er ebenso
aufgebracht. Und dann sah er sie noch einmal an, sah sie auf andere Weise an
als je zuvor. Vielleicht waren es ihre Augen oder ihr zornesroter Teint. Oder
die Art, wie sie atmete. Oder ihre gerundete Wange. Oder der kleine Fleck, wo
ihr ...
»Du hast Erde auf der Wange«, sagte er und reichte ihr sein
Taschentuch. Das stimmte zwar nicht, aber er wollte das Thema wechseln.
Dringend.
Sie tupfte sich das Gesicht mit dem Taschentuch ab, besah sich
dann das noch immer schneeweiße Tuch, runzelte die Stirn und tupfte noch
einmal.
»Jetzt ist es weg.«
Sie gab ihm das Taschentuch zurück, blieb einfach stocksteif
stehen und betrachtete ihn mit mürrischem Blick. Sie sah wieder aus wie zwölf,
beziehungsweise ihre Miene war die einer Zwölfjährigen, was ihm jetzt gerade
recht kam.
»Honoria«, sagte er vorsichtig, »als
Daniels Freund ...«
»Nicht.« Mehr sagte sie nicht. Nur
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