Julia Quinn
das ist ja schrecklich.«
»Der Knöchel war furchtbar geschwollen«, informierte Honoria
sie. »Anders wäre es nicht gegangen.«
»Aber gleich den Stiefel aufschneiden!«,
beharrte Cecily.
»Es waren nicht meine Lieblingsstiefel«, beteuerte Marcus, um
die arme Miss Royle zu beruhigen. Sie sah drein, als wäre einem Hündchen der
Kopf abgerissen worden.
»Ich frage mich, ob man sich einen einzelnen Stiefel anfertigen
lassen kann«, überlegte Honoria. »Passend zu dem anderen. Dann wäre nicht
alles verloren.«
»Oh nein, das geht nicht«, befand Miss Royle, anscheinend
eine Expertin auf diesem Gebiet. »Das Leder würde nie genau dazu passen.«
Die Ankunft von Mrs Wetherby, der altgedienten Haushälterin von
Fensmore, ersparte Marcus eine langwierige Diskussion über Fußbekleidung. »Ich
hatte schon angefangen, den Tee zuzubereiten, noch ehe Sie ihn bestellt
haben«, sagte sie und kam mit einem Tablett hereingewuselt.
Marcus war nicht überrascht. Das war mal wieder typisch für Mrs
Wetherby. Er stellte sie den jungen Damen vor, und als sie Honoria begrüßte,
leuchteten ihre Augen auf.
»Oh, Sie müssen Master Daniels Schwester sein!«, rief sie aus
und stellte das Teetablett ab.
»Stimmt«, erwiderte Honoria und lächelte sie strahlend an.
»Kennen Sie ihn denn?«
»Oh ja. Er war ein paarmal hier zu Besuch, meist, wenn der letzte
Earl auf Reisen war. Und natürlich war er ein-, zweimal da, seit Master Marcus
der Earl geworden ist.«
Marcus spürte, wie er errötete. Aber er würde sie niemals
korrigieren. Mrs Wetherby durfte gern weiterhin die kindliche Anrede Master
verwenden. Sie war wie eine Mutter zu ihm gewesen, als er ein einsamer Knabe
war; oft war von ihr das einzige warme Lächeln, das einzige ermutigende Wort
von ganz Fensmore gekommen.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, fuhr sie jetzt
fort. »Ich habe so viel von Ihnen gehört.«
Honoria blinzelte überrascht.
»Wirklich?«
Marcus blinzelte ebenfalls überrascht. Er konnte sich nicht
entsinnen, Honoria irgendwem gegenüber erwähnt zu haben, schon gar nicht
gegenüber der Haushälterin.
»Oh ja«, bekräftigte Mrs Wetherby. »Das war, als die beiden
noch klein waren, natürlich. Ich muss zugeben, in meiner Vorstellung sind Sie
noch ein kleines Mädchen, aber Sie sind jetzt wohl erwachsen, nicht wahr?«
Honoria lächelte und nickte.
»Also, wie trinken Sie Ihren Tee?«, fragte die Haushälterin
und gab, nachdem sie die entsprechende Auskunft erhalten hatte, Milch in alle
drei Tassen.
»Master Daniel habe ich schon furchtbar lange nicht mehr
gesehen«, plauderte sie weiter und hob die Kanne, um den Tee einzugießen.
»Er ist ein rechter Frechdachs, aber ich mag ihn sehr gern. Geht es ihm
gut?«
Darauf trat eine verlegene Pause ein, und Honoria sah Marcus Hilfe
suchend an. Der räusperte sich und sagte rasch: »Ich habe es Ihnen wohl nicht
erzählt, Mrs Wetherby. Lord Winstead hat vor einigen Jahren das Land
verlassen.« Den Rest der Geschichte würde er ihr später erzählen, aber
sicher nicht im Beisein von Honoria und ihrer Freundin.
Die Haushälterin interpretierte die sparsame Antwort ganz richtig
als Hinweis, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Sie räusperte sich ein
paarmal und reichte dann Honoria die erste Tasse. »Und hier für Sie«,
murmelte sie und reichte die zweite Miss Royle.
Die beiden bedankten sich, und nun erhielt auch Marcus seine
Tasse. Doch dann wandte Mrs Wetherby sich an Honoria. »Sie achten darauf, dass
er alles austrinkt, ja?«
Honoria grinste. »Versprochen.«
Mrs Wetherby beugte sich zu ihr herunter und flüsterte laut:
»Gentlemen geben keine guten Patienten ab.«
»Das habe ich gehört«, bemerkte Marcus.
Seine Haushälterin warf ihm einen listigen Blick zu. »Das sollten
Sie auch.« Und damit knickste sie und ging aus dem Zimmer.
Der restliche Nachmittag verlief ohne Zwischenfälle. Sie tranken
ihren Tee (Marcus zwei Tassen, Honoria bestand darauf), aßen die Kekse und
plauderten über diverse Nichtigkeiten, bis Marcus wieder anfing zu husten,
diesmal so lange, dass Honoria ihn energisch ins Bett zurückschickte.
»Wir müssen jetzt ohnehin langsam aufbrechen«, sagte sie und
stand auf. »Mrs Royle erwartet uns bestimmt schon ganz sehnsüchtig.«
Marcus nickte und dankte ihnen lächelnd, als
sie darauf beharrten, dass er ihretwegen nicht aufstehen möge. Er fühlte sich
wirklich schrecklich; er befürchtete sogar, dass er seinen Stolz
hinunterschlucken und sich auf sein Zimmer
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