Julia Quinn
Sie, dass ich Ihnen einfach
schreibe, aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. Lord
Chatteris geht es gar nicht gut. Seit drei Tagen fiebert er, und letzte Nacht
war er bewusstlos. Der Arzt kommt jeden Nachmittag vorbei, doch er weiß keinen
anderen Rat, als dass ich abwarten und beobachten solle.
Wie Sie ja wissen, besitzt der Earl keinerlei Familie. Aber ich
habe das Gefühl, dass ich irgendwen verständigen muss, und er hat immer so
lobend von Ihrer Familie gesprochen. Hochachtungsvoll
Mrs
Wetherby
Haushälterin
des Earl of Chatteris
»Oh nein«, murmelte Honoria und starrte auf den Brief, bis sie
anfing zu schielen. Wie konnte das sein? Als sie Fensmore verlassen hatte,
hatte Marcus zwar einen schrecklichen Husten gehabt, aber kein Anzeichen von
Fieber gezeigt. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass sich sein Zustand so
verschlimmern würde.
Und was bezweckte Mrs Wetherby mit ihrem Brief? Wollte sie sie
lediglich über Marcus' Zustand informieren, oder bat sie sie indirekt, nach
Fensmore zu kommen? Und falls es Letzteres war, hieß das, dass Marcus' Zustand
kritisch war?
»Mutter!«, rief Honoria. Sie erhob sich,
ohne nachzudenken, und lief durch das Haus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals,
und sie beschleunigte ihre Schritte. Ihre Stimme wurde lauter. »Mutter!«
»Honoria?« Lady Winstead erschien oben an der Treppe und
fächelte sich mit ihrem Lieblingsfächer aus chinesischer Seide Luft zu. »Was
ist denn nur los? Gab es Probleme bei der Putzmacherin? Ich dachte, du
wolltest mit Marigold dorthin gehen.«
»Nein, nein, das ist es nicht«, erwiderte Honoria und eilte
die Treppe hinauf. »Es ist Marcus.«
»Marcus Holroyd?«
»Ja. Ich habe einen Brief von seiner
Haushälterin bekommen.«
»Von seiner Haushälterin? Warum sollte die
...«
»Ich bin ihm in Cambridge begegnet, erinnerst du dich? Ich habe
dir davon erzählt ...«
»Oh, ja, ja.« Ihre Mutter lächelte. »Was
für ein schöner Zufall, dass du ihm einfach so über den Weg gelaufen bist. Mrs
Royle hat mir davon geschrieben. Ich glaube, sie hofft, dass er ein tendre für
ihre Tochter entwickelt.«
»Mutter, hier, bitte lies das.« Honoria hielt ihr den Brief
von Mrs Wetherby entgegen. »Er ist sehr krank.«
Lady Winstead überflog die Nachricht und
verzog besorgt das Gesicht. »Ach je. Das sind wirklich
schlechte Nachrichten.« Honoria fasste ihre Mutter am Arm, um ihr den
Ernst der Lage zu vermitteln. »Wir müssen nach Fensmore aufbrechen. Sofort.«
Lady Winstead sah überrascht auf. »Wir?«
»Er hat doch sonst niemanden.«
»Also, das kann ja wohl nicht stimmen.«
»Doch«, beharrte Honoria. »Weißt du nicht mehr, wie oft er zu
uns gekommen ist, wenn er und Daniel in Eton waren? Das war, weil er sonst
nirgends hinkonnte. Ich glaube nicht, dass er und sein Vater gut miteinander
ausgekommen sind.«
»Ich weiß nicht, es wirkt so aufdringlich.« Ihre Mutter runzelte
die Stirn. »Wir gehören doch nicht zur Familie.«
»Er hat keine Familie!«
Lady Winstead biss sich auf die Unterlippe. »Er war so ein netter
Junge, aber ich halte es einfach nicht für ...«
Honoria stemmte die Hände in die Hüften. »Wenn du nicht mitkommst,
fahre ich allein.«
»Honoria!« Lady Winstead wich schockiert zurück, und zum
ersten Mal blitzte in ihren farblosen Augen Emotion auf. »Das kommt überhaupt
nicht infrage! Dein Ruf wäre ruiniert.«
»Er stirbt vielleicht.«
»So ernst ist es bestimmt nicht.«
Honoria krallte die Hände ineinander. Sie hatten zu zittern
begonnen, und ihre Finger waren schrecklich kalt. »Ich glaube kaum, dass mir
die Haushälterin geschrieben hätte, wenn die Lage nicht ernst wäre.«
»Schon gut«, sagte Lady Winstead und seufzte leise. »Wir
brechen morgen auf.«
Honoria schüttelte den Kopf. »Heute.«
»Heute? Honoria, eine solche Reise erfordert Planung. Ich kann
unmöglich ...«
»Heute, Mutter. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Honoria
lief die Treppe hinunter und rief über die Schulter zurück:
»Ich sorge dafür, dass die Kutsche bereit gemacht wird. In einer
Stunde fahren wir los!«
Lady Winstead, die anscheinend etwas von dem
Feuer wiedergefunden hatte, das sie besessen hatte, ehe ihr Sohn das Land
verlassen musste, übertraf die in sie gesetzten Erwartungen. Schon eine
Dreiviertelstunde später stand sie mit ihrer Zofe und den gepackten Taschen im
Salon und wartete auf Honoria.
Fünf Minuten später waren sie unterwegs.
Die Reise ins nördliche Cambridgeshire war an einem
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