Julia Quinn
ihrer sanften Seite zu zeigen.
»Beruhige dich«, sagte sie langsam und legte die Kompresse
auf seinen Nacken. »Glaub mir, wenn du dich beruhigt hast, wird es dir viel
besser gehen.« Sie tauchte den Stoff noch einmal ein. »Was gar nichts im
Vergleich dazu sein wird, wie viel besser es mir dann gehen wird.«
Das nächste Mal gelang es ihr, ihm das nasse Tuch auf die Brust zu
legen; den Schock angesichts seines nackten Oberkörpers hatte sie längst
hinter sich gelassen. Ihm schien die Behandlung nicht zu gefallen, denn er
wehrte sie ab, so heftig, dass sie mit einem Plumpsen auf dem Teppich landete.
»Oh nein, kommt ja nicht infrage«, murmelte sie in sich hinein,
bereit, ihn mit aller Kraft zu bekämpfen. Doch bevor sie ums Bett zum
Wasserkrug laufen konnte, streckte er ein Bein unter den Decken hervor und
erwischte sie am Bauch.
Sie stolperte, warf die Arme hoch, um das Gleichgewicht zu wahren
und nicht noch einmal hinzufallen. Instinktiv packte sie das erstbeste Objekt,
das ihre Hand berührte. Sein Bein.
Marcus schrie auf.
Honorias Herz begann wie wild zu hämmern, und sie ließ sofort
los. Ohne Halt ging sie zu Boden und landete unsanft auf ihrem rechten
Ellbogen.
»Aua!«, schrie sie, während der Schmerz sie bis in die Fingerspitzen
durchzuckte. Aber irgendwie rappelte sie sich wieder auf, den Ellbogen an die
Seite gepresst. Dieser Schrei, den Marcus von sich gegeben hatte ...
Hatte beinahe unmenschlich geklungen.
Er wimmerte noch, als sie ans Bett trat, und er atmete heftig –
kurze, flache Atemzüge, mit denen man für gewöhnlich Schmerzen abwehrte.
»Was ist passiert?«, wisperte Honoria. Das war nicht das
Fieber. Das war etwas weitaus Schlimmeres.
Sein Bein. Sie hatte sein Bein gepackt.
In diesem Moment bemerkte sie, dass ihre Hand klebrig war. Den
Ellbogen immer noch fest umfasst, drehte sie die freie Hand um, bis ihre
Handfläche nach oben zeigte.
Blut.
»Oh Gott.«
Mit flauem Gefühl im Magen trat sie auf ihn zu. Sie wollte ihn
nicht erschrecken; er hatte sie schon zweimal niedergeschlagen. Aber das Blut
... ihr Blut war es nicht.
Er hatte das Bein unter die Decke zurückgezogen. Vorsichtig lüpfte
sie die Decke und schob sie zurück, bis sie das Bein bis zum Knie freigelegt
hatte.
»Oh Gott.«
Eine lange, entzündete Schnittwunde zog sich über seinen
Unterschenkel. Ein wenig Blut quoll heraus und irgendeine andere Substanz, über die sie lieber nicht nachdenken wollte. Das
Bein war furchtbar geschwollen und verfärbt und glänzte ganz schrecklich. Es
sah furchtbar aus, wie etwas Verfaulendes, und Honoria fragte sich voll
Entsetzen, ob er am Verfaulen war.
Sie ließ die Decke fallen und zuckte zurück, konnte kaum den
Inhalt ihres Magens bei sich behalten.
»Oh Gott«, sagte sie noch einmal, unfähig, etwas anderes zu
sagen, kaum fähig, etwas anderes zu denken. Daher also rührte sein
Fieber. Es hatte nichts zu tun mit der Erkältung und dem Husten.
In ihrem Kopf drehte sich alles. Er hatte eine entzündete Wunde.
Vermutlich war es passiert, als sie ihm den Stiefel aufgeschnitten hatten.
Aber er hatte nicht gesagt, dass er dabei verletzt worden war. Warum hatte er
es nicht erwähnt? Er hätte es irgendjemandem erzählen müssen. Er hätte es ihr sagen sollen.
Es klopfte leise an die Tür, und dann streckte Mrs Wetherby den
Kopf herein. »Ist alles in Ordnung? Ich habe lautes Scheppern gehört.«
»Nein«, erwiderte Honoria mit schriller, panikerfüllter
Stimme. Sie versuchte, ihre Angst unter Kontrolle zu bringen. Jetzt war
Vernunft gefragt. So war sie niemandem eine Hilfe. »Sein Bein. Wussten Sie, was
mit seinem Bein ist?«
»Was meinen Sie?«, fragte Mrs Wetherby und trat rasch an ihre
Seite.
»Sein Bein ist furchtbar entzündet. Ich bin mir sicher, dass das
Fieber darauf zurückzuführen ist.«
»Der Arzt sagte, es wäre der Husten. Er –
oh!« Mrs Wetherby zuckte zurück, als Honoria die Decke hob und ihr Marcus'
Bein zeigte. »Ach, du lieber Himmel.« Sie trat einen Schritt zurück und
legte die Hand auf den Mund. Sie sah aus, als könnte sie sich jeden Augenblick übergeben. »Ich hatte keine Ahnung. Das
wusste keiner von uns. Wie können wir das nur nicht gesehen haben?«
Honoria fragte sich dasselbe, aber jetzt war nicht der richtige
Zeitpunkt für Schuldzuweisungen. Um Marcus zu helfen, mussten jetzt alle
zusammenarbeiten, statt sich darüber zu streiten, wer schuld war. »Wir müssen
den Arzt rufen«, sagte sie zu Mrs Wetherby. »Die Wunde muss
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