Julia Quinn
Weg«, sagte Lady Winstead und krempelte die Ärmel
auf.
Honoria trat zur Seite und versuchte, den winzigen Funken
Eifersucht zu ignorieren, der sich in ihr regte. Hatte sie ihre Mutter
denn nicht auch gebraucht?
»Honoria?«
Sie sah ihre Mutter an, die sie mit erwartungsvoller Miene
betrachtete. »Tut mir leid«, murmelte Honoria und hielt ihrer Mutter das
Stück Stoff entgegen. »Willst du das hier?«
»Ein sauberes Stück, bitte.«
»Natürlich.« Eilig machte sich Honoria daran, den Wunsch
ihrer Mutter zu erfüllen und Marcus' Vorrat an Unterwäsche weiter zu
dezimieren.
Ihre Mutter nahm das Stück Stoff entgegen und sah es dann verwirrt
an. »Was ist ...«
»Das war alles, was ich finden konnte«, rechtfertigte sich
Honoria. »Und ich dachte, die Zeit drängt.«
»Allerdings«, bestätigte ihre Mutter. Sie sah auf und begegnete
Honorias Blick mit offenem Ernst. »Ich habe so etwas schon einmal
gesehen.« Ihr zittriger Atem war das einzige Anzeichen von Nervosität.
»Bei deinem Vater. An seiner Schulter. Das war noch vor deiner Geburt.«
»Was ist passiert?«
Ihre Mutter sah noch einmal auf Marcus' Bein und kniff die Augen
zusammen. »Schau mal, ob du mehr Licht darauf richten kannst.« Und
während Honoria zum Fenster ging, um die Vorhänge ganz aufzuziehen, sprach sie
weiter: »Ich weiß nicht einmal, wie er sich die Schnittwunde zugezogen hat. Nur
dass sie sich dann schrecklich entzündet hat.« Ganz leise fügte sie hinzu:
»Fast so schlimm wie die hier.«
»Aber er hat sich davon erholt«, sagte Honoria und kehrte an
die Seite ihrer Mutter zurück. Von dieser Geschichte kannte sie das Ende. Bis
zu seinem Todestag hatte ihr Vater zwei vollkommen gesunde Arme besessen.
Ihre Mutter nickte. »Wir hatten großes Glück. Der erste Arzt
wollte amputieren. Und ich ...« Ihre Stimme brach, und es dauerte einen Augenblick,
ehe sie fortfuhr: »Ich hätte es zugelassen. Ich hatte solche Angst um deinen
Vater.« Mit dem sauberen Stück Stoff tupfte sie Marcus' Bein ab und sagte
dann sehr leise: »Ich hätte alles getan, was man mir sagte.«
»Warum haben sie ihm den Arm dann nicht abgenommen?«, fragte
Honoria ruhig.
Ihre Mutter atmete heftig aus, so, als wollte sie eine böse Erinnerung
loswerden. »Dein Vater hat nach einem zweiten Arzt verlangt. Er sagte mir, wenn
der zweite mit dem ersten übereinstimmte, würde er tun, was man ihm sagte.
Aber auf das Wort eines einzelnen Mannes hin würde er sich den Arm nicht
abnehmen lassen.«
»Der zweite sagte, es sei nicht nötig?«
Ihre Mutter lachte grimmig. »Nein, er sagte, dass man ihn ziemlich
sicher abnehmen müsste. Aber er sagte deinem Vater, zuerst könnte man noch
einmal versuchen, die Wunde zu säubern. Richtig zu säubern.«
»Das habe ich getan«, sagte Honoria eilig. »Ich glaube, etwas
von der Entzündung konnte ich herausholen.«
»Dann ist der Anfang ja schon einmal gemacht«, sagte ihre
Mutter. »Aber ...« Sie schluckte.
»Aber was?«
Ihre Mutter konzentrierte sich ganz auf Marcus' Wunde, drückte
behutsam mit dem Tuch darauf, während sie sie untersuchte. Sie sah Honoria
nicht an, als sie erklärte: »Der Arzt sagte, wenn dein Vater nicht schreit,
säuberten wir nicht gründlich genug.«
»Weißt du noch, was er gemacht hat?«, flüsterte Honoria. Lady
Winstead nickte. »Alles«, sagte sie.
Honoria wartete ab. Ihr schwante Schlimmes.
Ihre Mutter sah endlich auf. »Wir müssen ihn am Bett festbinden.«
10. Kapitel
E s dauerte keine zehn Minuten, bis Marcus' Schlafzimmer in
einen behelfsmäßigen Operationssaal verwandelt war. Mrs Wetherby kam mit dem
heißen Wasser und einem Vorrat sauberer Tücher. Zwei Lakaien wurden angewiesen,
Marcus am Bett festzubinden, was sie taten, trotz des Entsetzens, das sich in
ihrer Miene abzeichnete.
Ihre Mutter bat um eine Schere. Die kleinste, schärfste, die ihnen
zur Verfügung stand. »Ich muss das tote Gewebe wegschneiden«, sagte sie.
In ihren Mundwinkeln bildeten sich winzige Falten der Entschlossenheit. »Ich
habe zugesehen, wie es der Arzt bei deinem Vater gemacht hat.«
»Hast du selbst es auch getan?«, fragte
Honoria.
Ihre Mutter sah ihr direkt in die Augen und wandte sich dann ab.
»Nein.«
»Oh.« Honoria schluckte. Eine andere Antwort fiel ihr dazu
nicht ein.
»Es ist nicht schwer, solange man seine Nerven unter Kontrolle
behält«, sagte ihre Mutter. »So genau braucht man dabei nicht zu
arbeiten.«
Mit offenem Mund sah Honoria zu Marcus, dann zu ihrer Mutter. »Nicht
so genau?
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