Julia Saison Band 01
worden, weil er sich hervorragend ausdrücken konnte. Warum also gelang es seiner Mutter, ihm die Sprache zu rauben?
„Charles, hast du mich gehört?“
„Ja, Mom. Ich muss jetzt auflegen. Bis Sonntag.“ Chuck beendete das Gespräch und nahm sich für das neue Jahr vor, künftig immer einen Blick auf das Display zu werfen, bevor er einen Anruf annahm.
Die Vorstellung, zum Dinner bei seinen Eltern zu erscheinen, sagte ihm gar nicht zu. Nicht, dass er seine Familie nicht liebte und nicht gern Zeit mit ihr verbrachte. Es lag vielmehr daran, dass an einem Sonntagsessen alle Angehörigen teilnehmen sollten und es ihn schmerzlich daran erinnerte, wer fehlte.
Er schüttelte den Gedanken ab. Seine Mutter hatte recht. Sie mussten die Vergangenheit ruhen lassen. Daher wollte er zum Dinner gehen und für ein paar Stunden gut Wetter machen.
Er dachte an die Aufforderung, eine Begleitung mitzubringen. Von seiner letzten Freundin hatte er sich bereits vor einer ganzen Weile verabschiedet, weil einfach kein Funke übergesprungen war. Außerdem hatte er zu viele Beziehungen in die Brüche gehen sehen.
Unter allen Umständen wollte er verhindern, dass seine Mutter ihm eine Frau suchte. Eigentlich brauchte er dafür nur eine Alibifreundin, die ihn zum Dinner begleitete und ihm seine Mutter für eine Weile vom Hals hielt.
Während ihm all das durch den Kopf ging, schaute er weiterhin aus dem Fenster. Was zum Teufel trieb Carly da? Sie war inzwischen bis zu dem Pavillon mitten im Park gegangen und hockte sich vor einen Obdachlosen, der auf den Stufen saß.
Chuck sprang von seinem Stuhl hoch und eilte durch den Hinterausgang, der direkt auf den Platz führte. Was dachte sich diese verrückte Frau nur dabei, sich einem Fremden zu nähern? Offensichtlich war Denken nicht ihre Stärke. Schließlich hatte sie ihre Nachbarschaft in Brand gesteckt. Okay, nur versehentlich, aber trotzdem …
Obwohl er vergessen hatte, seinen Mantel anzuziehen, spürte er vor lauter Verärgerung kaum den bitterkalten Wind, der vom See herüberwehte. Er erreichte Carly, als sie gerade zu den geparkten Autos ging. „Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?“
Sie blieb abrupt stehen und verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Entschuldigung?“
„Ich habe gefragt, was Sie sich gedacht haben. Sie können doch nicht einfach einen wildfremden Mann im Park ansprechen.“
Mit verschränkten Armen drückte sie sich den Aktenordner an die Brust und tippte ungehalten mit dem Fuß auf den Boden. „Und wenn ich sage, dass es kein Fremder ist?“
Chuck erkannte deutlich, dass sie verstimmt war. Es kümmerte ihn überhaupt nicht. Denn auch er hatte schlechte Laune. „Dann würde ich sagen, dass er trotzdem nicht besonders vertrauenerweckend aussieht.“
„Und ich würde Ihnen sagen, dass Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollen. Ihr durchgeknallter Schwager hat angeordnet, dass ich Ihnen bei Ihrem Projekt helfe, und das werde ich tun, aber damit endet unsere Beziehung auch. Zufälligerweise wurde Mr. Deever in die Notaufnahme gebracht, als ich gerade dort mein Praktikum abgeleistet habe. Ich wollte mich lediglich erkundigen, wie es ihm geht. Nicht, dass es Sie etwas angeht, und anderenfalls würde ich mir trotzdem verbitten, dass Sie mir gegenüber diesen Ton anschlagen. Heben Sie sich den Polizistenton für Ihre Arbeit auf.“
„Wären Sie im Park überfallen worden, wäre es sehr wohl die Angelegenheit der Polizei.“
„Es ist helllichter Tag, und niemand ist gegen mich tätlich geworden – außer Ihnen.“ Sie blickte bedeutungsvoll auf ihren Arm.
Nun erst wurde Chuck bewusst, dass er sie festhielt. Abrupt ließ er die Hand sinken. „Entschuldigung. Sie haben mir einen Schrecken eingejagt.“
„Eine Frau, die zufällig ein paar Schuppen abfackelt, ist in Ihren Augen eine so große Gefahr für sich selbst und die Gemeinschaft, dass Sie sich ängstigen müssen?“
„Ich …“ Er verstummte. Sie hatte irgendetwas an sich, das ihn in einen stammelnden Idioten verwandelte. Diese Fähigkeit hatte bisher nur eine einzige Frau besessen, nämlich seine Mutter. Dieser Gedanke brachte ihn ganz unvermittelt auf einen verrückten Einfall. „Ich habe da eine Idee.“
„Oje!“ Carly seufzte. „Männer und Kinder – was die sich einfallen lassen, ist selten gut.“
„Wissen Sie, ich brauche eine weibliche Begleitung.“
„Oh nein! Niemals. Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Ich habe zwar nicht
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