Julia Saison Band 05
reich und heiß ist, muss er mich nicht zum Lachen bringen. Dann vertreiben wir uns die Zeit mit Shopping – und mit Sex.“ Renata drehte die Zeitung um und schob sie Kelly hin. „Schau ihn dir nur mal an.“ Sie klopfte mit dem Finger auf das Foto. „Und dann erzähl mir, dass du den da von der Bettkante stoßen würdest.“
Kelly stöhnte. „Sorry. Kein Interesse. Alleinerziehende Mutter mit Vollzeitjob. Ich habe keine Zeit für so was.“
„Aber diese Augen. So intensiv. Schau ihn dir doch einfach mal an.“
Kelly gehorchte. „Oh. Er ist sehr …“ Sie verstummte. „Das kann nicht sein“, flüsterte sie.
„Wie bitte?“
Aber Kelly antwortete nicht. Sie starrte das Bild an und traute ihren Augen nicht.
Irgendwo, wie aus weiter Ferne, hörte sie, wie Renata fragte: „Kelly? Kelly, alles in Ordnung?“
Nein. Nichts war in Ordnung. Denn sie kannte diese Augen. Diesen Mund. Die markanten Augenbrauen.
Michael.
Er sah … älter aus.
Natürlich. Es war schließlich zehn Jahre her.
Seine Schultern waren breiter. Auf dem Foto wirkte er außerdem so … zuversichtlich. Als ob er bereit wäre, es mit allem aufzunehmen. Das genaue Gegenteil von dem Jungen, in den sie sich einmal verliebt hatte.
Aber trotzdem. Diese Augen und diesen Mund würde sie überall wiedererkennen. Ihre Jugendliebe, der schlaksige, schüchterne Computernarr Michael Vakulic, war jetzt Mitch Valentine.
„Himmel, Kelly. Geht es dir …“
„Bestens.“ Sie zwang sich dazu, aufzuschauen und zu lächeln. „Mir geht es prima.“ Sie tat so, als ob sie sich Luft zufächeln müsste. „Und wow. Du hast recht. Der Typ ist heiß.“
„Sag ich doch.“ Renata streckte die Hand wieder nach der Zeitung aus.
In diesem Augenblick tauchte Carol Pace, die Managerin des Centers, auf. „Renata, ich brauche die Akte Carera.“
Renata war eine von vier Familientherapeutinnen, die Kelly im Sacramento County Family Crisis Center beschäftigte. Renata konnte fantastisch mit Familien umgehen, die Probleme hatten. Was den Papierkram anging, war sie nicht ganz so perfekt. „Die sollte aber da sein. Abgelegt unter C.“
„Allerdings sollte sie das. Ist sie aber nicht.“
„Okay, okay, ich komme ja schon …“ Renata schüttelte den Lockenkopf, stand auf und folgte Carol.
Noch nie war Kelly so dankbar dafür gewesen, allein zu sein. Sie befahl ihren Händen, mit dem Zittern aufzuhören. Dann faltete sie die Zeitung zusammen, nahm ihren Kaffee und stand auf. Mit weichen Knien eilte sie zur Tür hinaus und den Gang hinunter.
Endlich erreichte sie ihr Büro.
Als das Schloss klickte, lehnte sie sich mit der Stirn gegen den Türrahmen und flüsterte verzweifelt: „Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein …“
Ihr Herz raste. Sie holte tief Luft, atmete quälend langsam aus. Himmel. Sie zitterte am ganzen Körper. Nachdem sie noch mal tief durchgeatmet hatte, ging sie zum Schreibtisch. Dort stellte sie ihre Kaffeetasse auf den Steinuntersetzer, den ihre neunjährige Tochter DeDe höchstpersönlich bemalt hatte.
Michael, dachte sie. Oh Gott, Michael …
Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen. Kelly krallte sich an den Armlehnen fest, sodass ihre Knöchel weiß hervorstanden. Die Zeitung wirkte so harmlos. Die „Sacramento Bee“ für Dienstag, den 13. Februar.
Aber diese Zeitung drohte jetzt, ihr Leben und das ihres einzigen Kindes für immer zu verändern.
Auf dem Foto in der Ecke des Schreibtischs trug DeDe rosa Strumpfhosen und Tutu und strahlte ihre Mutter an. Das Bild war von der Probe für ihre Tanzaufführung im letzten Herbst. Daneben stand eine Aufnahme von DeDe und Candy, der alten Hündin. Sie war eine schwarze Promenadenmischung, die ihnen vor fünf Jahren zugelaufen war und seither zur Familie gehörte. Im Bücherregal und auf dem Sideboard standen noch mehr Fotos von DeDe. Zwei zeigten Kelly und DeDe. Ein anderes DeDe mit ihrem Onkel Tanner, ein weiteres DeDe, Kelly und Tanner – und dann noch mit Hayley, der lange verloren geglaubten Schwester von Kelly und Tanner, die sie erst im letzten Juni wiedergefunden hatten …
Kelly schloss die Augen. Sie konnte sich alle Fotos in ihrem Büro noch einmal ansehen. Und dann noch einmal. Oder auch tausendmal. Aber irgendwann musste sie die Zeitung wieder aufschlagen. Sie konnte dem Bild in der Zeitung nicht entkommen. Oder den Tatsachen, denen sie sich jetzt stellen musste.
Schnell und entschlossen rollte sie den Stuhl an den Schreibtisch und faltete die Zeitung
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