Julia Sommerliebe 0020
nie im Bett einer Frau, und er ließ auch keine Frau bei sich übernachten.
Dank des jüngsten politischen Skandals waren zum Glück keine Paparazzi im Restaurant gewesen. Endlich einmal hatten weder Seb noch seine Begleitung im Mittelpunkt des Medieninteresses gestanden, sodass er ungestört hatte essen und ins Konzert gehen können. Dafür war er sehr dankbar, denn im Gegensatz zu den Frauen, die unbedingt mit ihm gesehen werden wollten, legte er keinen Wert darauf, seinen Namen in den Klatschspalten der Zeitungen zu lesen.
Wieder hörte Seb jetzt laute Stimmen, beschleunigte sein Tempo und gelangte über eine Piazza in ein Labyrinth kleiner schmaler Straßen, als ein weiterer panischer Schrei der Frau ertönte. Seb bog um eine Ecke und sah einen schwarz gekleideten Mann, der sein Opfer ins Gesicht schlug und sie dann zu einer Tür zerren wollte.
Sebastiano forderte ihn auf, die Frau in Ruhe zu lassen. „ Smetilla!“, rief er laut. „Lassen Sie die Frau los!“
Der Mann stieß die weinende Frau unsanft zur Seite und richtete seine Aufmerksamkeit nun auf Seb. Vorsichtig, aber ohne Angst trat Seb dem Mann gegenüber. Seine weltgewandte, elegante Ausstrahlung als einer der erfolgreichsten plastischen Chirurgen ganz Europas überdeckte die Wahrheit nicht: Er war ein Junge von der Straße, der sich mit Charme und Schläue durchs Leben geschlagen hatte. Und dieser Junge war nie ganz verschwunden.
Um einen taktischen Vorteil zu erlangen, stellte Seb sich zwischen den Angreifer und die Frau. In dem schwachen Licht betrachtete er sein Gegenüber und prägte sich jedes Detail ein, um ihn später identifizieren zu können: die Narbe, die sein Kinn in zwei Hälften teilte, die roten, auf die Finger tätowierten Buchstaben und die goldenen Ohrstecker.
Ohne seinen Gegner aus den Augen zu lassen, warf Seb der Frau sein Handy zu, damit sie die Polizei rufen konnte. Er hatte gehofft, dass der Mann nun einen Rückzieher machte, doch dieser zog plötzlich ein Messer hervor, dessen Schneide bedrohlich glänzte.
Geschickt wich Seb aus, als der Mann auf ihn zusprang, und wehrte das Messer mit dem Jackett ab, das er über dem Arm trug. Die Klinge drang durch den Stoff, verletzte Seb aber nicht. Sein Herz begann heftig zu schlagen. Undeutlich nahm er wahr, wie die Frau schluchzend Hilfe holte. Wieder kam der Mann auf ihn zu, und diesmal gelang es Seb nicht, den Angriff abzuwehren. Er spürte, wie das Messer ihm am Gelenk und am Ballen der rechten Hand in die Haut schnitt. Blut quoll aus der Wunde und rann ihm am Arm hinunter.
Als aus einiger Entfernung eine Sirene ertönte, versuchte der Mann, an Seb vorbei zu der Frau zu gelangen, die laut aufschrie und sich gegen die Wand presste. Um sie zu schützen, stellte Seb sich vor den Mann und forderte ihn mit ruhiger Stimme auf aufzugeben. Die wäre Polizei ohnehin gleich da.
Laut fluchend ging der Mann ein letztes Mal auf ihn los. Als Seb das Messer sah, hob er instinktiv die Arme, sodass die rasierklingenscharfe Schneide ihn am Ellenbogen traf, an seinem Unterarm entlangschrammte und dann seine Hand aufritzte. Seb trat nach dem Angreifer, der ordinär schimpfend versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Dann rannte er davon und verschwand in der Dunkelheit.
Ohne einen Gedanken an seine Verletzungen zu verschwenden, wandte Seb sich der Frau zu und erkundigte sich, wie es ihr ging. „ Signora, come sta?“
„ Bene. Grazie, signor, mille grazie!“, dankte diese ihm schluchzend und wies dann erschrocken auf seine blutenden Wunden. „ O Dio! Sie bluten ja!“
Nachdem Seb sich vergewissert hatte, dass die Frau unverletzt war, hob er die Hände – ein wertvolles und unersetzliches Werkzeug in seinem Beruf –, um die Blutung zu stoppen und die Schwellung auf ein Minimum zu reduzieren. Er konnte sie kaum bewegen. Der linke Arm fühlte sich schwer und ein wenig lahm an, das rechte Handgelenk war merkwürdig schlaff. Außerdem schienen ihm Daumen und Zeigefinger der rechten Hand nicht zu gehorchen.
Zum ersten Mal an diesem Abend verspürte Seb tiefe Angst.
1. KAPITEL
„Ich glaube, wir haben es gefunden, Gina. Dies ist der ganz besondere Ort, an dem Matteo und ich zusammen waren.“
Gina hörte ihrer Großmutter deutlich an, wie aufgewühlt sie war. Sie sprach mit starkem Akzent und war sichtlich aufgeregt. Eine Mischung aus Wehmut, Beklommenheit und Sehnsucht glänzte in ihren blassblauen Augen, doch ansonsten strahlte die zunehmend zerbrechlich wirkende ältere Dame
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