Julia Sommerliebe 0020
Strathlochan wegen der Wälder, Hügel und Seen geradezu paradiesisch vorkommt“, erwiderte Gina lächelnd. „Es ist wirklich eine wunderschöne Gegend, in der man gut leben kann. Die Stadt wächst zwar, aber das Gemeinschaftsgefühl ist nicht verloren gegangen.“
Ob es am Wein lag oder an Seb, wusste Gina nicht. Doch sie gab viel mehr von sich preis, als sie vorgehabt hatte. Er war aufmerksam, lustig, intelligent und warmherzig – und er gab ihr das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein; als wäre sie der einzige Mensch, der für ihn zählte. Es war geradezu berauschend.
Sie unterhielten sich über Bücher, Musik, Filme und Politik und stellten fest, dass sie in vielem dieselbe Meinung vertraten. Hatten sie einmal unterschiedliche Ansichten, diskutierten sie und neckten einander spielerisch. Es war lange her, dass Gina so viel gelacht hatte. Und mindestens genauso lange hatte sie sich nicht als Frau wahrgenommen gefühlt. Als Seb mehr über sie erfahren wollte, erzählte Gina ihm von ihrer Großmutter, ihrem Zuhause, ihrer Arbeit als Krankenschwester und ihren besten Freundinnen: der stillen, fleißigen Krankenschwester Holly Trait und der erfolgreichen, zielstrebigen Ärztin Ruth Baxter.
„Ruth passt auf Montgomery auf, solange ich im Urlaub bin.“
„Montgomery?“, fragte Seb so misstrauisch, dass Gina lachen musste.
„Monty ist mein schwarzer Labrador.“ Sebs erleichterter Gesichtsausdruck entging ihr nicht, als sie fortfuhr: „Ich liebe Tiere und hätte am liebsten einen ganzen Zoo, aber dafür habe ich leider zu wenig Platz und Zeit.“ Und außerdem kein Geld, fügte sie ihn Gedanken hinzu. „Monty ist im Alter von einem halben Jahr ausgesetzt worden, und wir haben ihn aufgenommen. Er ist wirklich toll. Inzwischen ist er ein Jahr alt und leistet Nonna Maria Gesellschaft, wenn ich bei der Arbeit bin. Wir beide lieben alte Filme und haben ihn so genannt, weil meine Großmutter damals gerade eine Biographie über Montgomery Clift gelesen hat und der kleine Hund ihrer Meinung nach genauso ein gut aussehender, dunkler Typ war.“
Seb nickte lächelnd. „Und wenn Sie wieder zu Hause sind, treten Sie dann eine neue Stelle an?“
„Ja.“ Gina schob sich den letzten Bissen in den Mund und legte ihr Besteck zufrieden lächelnd auf den Teller. „Ich werde in einem Hilfszentrum für Obdachlose, Arbeitsuchende und andere Hilfsbedürftige arbeiten. Die Arbeit in der Notaufnahme hat mir auch gefallen, aber dort herrscht immer ziemlicher Druck, und die Schichten waren sehr lang. Ich sehne mich geradezu nach regelmäßigeren Arbeitszeiten, damit ich mich besser um Nonna Maria kümmern kann. Ich hatte zwar im Krankenhaus Chancen auf eine höhere Position, aber dann hätte ich weniger direkten Kontakt zu den Patienten gehabt, und genau das ist mir bei dem Job wichtig. Tja, und man soll seinen Grundsätzen treu bleiben und tun, was einen glücklich macht, stimmt’s?“
Seb schwieg nachdenklich. Im Gegensatz zu Gina hatte er entgegen seinen Überzeugungen gehandelt. Statt den Verlockungen nachzugeben, hätte er sich und seinen Wurzeln treu bleiben sollen. Die Erkenntnis war ernüchternd. Plötzlich musste er an Riccos Rat denken. Sollte er Gina jetzt sofort die Wahrheit über sich erzählen? Nachdem sie gerade so leidenschaftlich von ihren Überzeugungen gesprochen hatte … Seb gefiel die Aussicht nicht, dass Gina schlecht über ihn dachte.
„O je!“, rief sie verlegen, als sich das Schweigen in die Länge zog. „Jetzt habe ich die ganze Zeit nur von mir geredet und Sie bestimmt gelangweilt!“
„Ich kann mir nicht vorstellen, Sie jemals langweilig zu finden.“ Gedankenvoll sah Seb sie an. „Sie sprechen mit solcher Zuneigung und Hingabe von Ihrer Familie, Ihren Freunden und Ihrer Arbeit. Aber was ist eigentlich mit Ihnen, Gina?“
Sie wirkte überrascht. Als wäre sie nicht wichtig! Seb sah seinen Verdacht bestätigt: Bei Gina kamen die Bedürfnisse anderer stets vor ihren.
„Ja, was wünschen Sie sich? Wovon träumen Sie?“
„Ich weiß nicht.“ Stirnrunzelnd drehte sie ihr Glas zwischen den Fingern hin und her. „Darüber habe ich lange nicht mehr nachgedacht“, gab sie zu und blickte ihn aus ihren dunklen Augen verwirrt an. „Wahrscheinlich, weil ich mich so lange über meine Familie und meine Arbeit definiert habe. Beides bedeutet mir sehr viel.“
Seb nahm ihre Hand in seine und genoss es, wieder ihre zarte Haut zu spüren. „Das ist ja auch richtig so. Aber Sie sind doch auch
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