Julia Sommerliebe Band 22
der einzige Weg nach draußen. Und er hatte recht: Sie zögerte das Unvermeidliche nur hinaus. Außerdem würden die Männer vor der Tür ihr gegenüber bestimmt nicht freundlicher gestimmt sein, wenn Gabby sie noch länger warten ließ.
Freundlicher gestimmt – was dachte sie sich eigentlich? Wahrscheinlich würde man sie direkt in eine Zelle neben Paul stecken.
„Ich schlage vor, Sie bleiben erst einmal hier hinten und reißen sich zusammen, falls Sie wieder den Drang verspüren, irgendetwas Dramatisches oder Dummes zu tun.“
„Aber Sie werden doch sicherlich auch Ärger bekommen?“, fragte sie teilnahmsvoll. Allerdings hielt sich ihr Mitleid für ihn in Grenzen, da er sich selbst nicht in Bedrängnis zu sehen schien. Außerdem wurde sie den Eindruck nicht los, dass er jemand war, der sich gern den Regeln widersetzte – einfach nur aus Spaß.
Unter seiner beherrschten Oberfläche muss sich ein hitziges Gemüt befinden, dachte sie. Er steckt voller Widersprüche. So wie sein Mund. Unwillkürlich sah sie in dessen Richtung. Die Oberlippe wirkte ernst, die volle Unterlippe hingegen sinnlich …
„Ich habe bereits Ärger.“
Verwundert über die kryptische Antwort runzelte sie die Stirn. „Das erklärt dann wahrscheinlich auch, warum Sie mir nicht helfen wollen.“
Er neigte den Kopf, und sie bemerkte ein rätselhaftes Funkeln in seinen Augen. „Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.“
„Warum sind Sie hier?“
„Warum sind Sie hier?“
„Ich suche jemanden.“
„Den Kronprinzen?“
„Im Notfall auch ihn. Aber eigentlich suche ich jemanden, der größeren Einfluss und mehr Macht hat.“ Ein unterdrückter Laut ließ sie in seine Richtung blicken.
„Ich könnte mir vorstellen, dass auch der Kronprinz einen gewissen Einfluss hat …“
„Mag sein.“ Gabby zuckte mit den Schultern. Beunruhigt sah sie zu der Tür, hinter der die Wachen auf sie warteten. Sie war mit ihrem Vorhaben kläglich gescheitert. Vielleicht würde sie sogar im Gefängnis landen! „Aber er ist nicht hier. Wir beide sind doch allein in diesem Raum, oder?“ Die Frage klang vertraulicher, als sie klingen sollte. „Ich wollte niemanden beleidigen, aber ich brauche einen wirklich wichtigen, einflussreichen Menschen, der sich anhört, was ich zu sagen habe. Keine Angst, ich werde Sie nicht mit Einzelheiten langweilen.“
Jetzt, ohne ihre Streitlust, wirkte sie viel zarter und zerbrechlicher. Rafik sträubte sich dagegen, aber die Niedergeschlagenheit in ihrer tonlosen Stimme löste Mitgefühl in ihm aus. „Ich werde Ihnen schon sagen, wenn ich mich langweile“, versprach er.
„Danke für das Angebot.“ Obwohl sie bezweifelte, dass er es ernst meinte, sagte sie: „Ich bin hier, um den König zu treffen.“
Es klang so abwegig, dass Gabby sich nicht gewundert hätte, wenn der Mann jetzt laut aufgelacht hätte. Aber er lachte nicht. Was Gabby wiederum fast bedauerte, denn würde er lachen oder auch nur lächeln, wäre das sicherlich ein unglaublicher Anblick. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie die Winkel seines ernsten, verführerischen Mundes sich entspannten. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, hielt sie es für besser, wenn er nicht lachte, denn so konnte sie sich besser konzentrieren.
„Auf dem Amtsweg kann man eine Audienz beim König beantragen.“ Dass die Liste derer, die darauf warteten, bei seinem Vater vorzusprechen, sehr lang war, sagte er nicht.
„Für Amtswege und Anträge habe ich keine Zeit“, gab sie zu bedenken. „Daher muss ich mir etwas anderes einfallen lassen.“ Sie sah sich im Raum um. Es musste einfach einen anderen Weg hinaus geben. Sie wollte einfach nicht glauben, dass die Rettung ihres Bruders auf so schmachvolle Weise scheitern sollte.
„Sind Sie sicher, dass außer dieser Tür kein anderer Weg hier herausführt? Was ist mit dem Balkon?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie, durch ein weiteres Donnern gegen die Zimmertür angetrieben, an ihm vorbei durch die offen stehende Balkontür.
Der Balkon war nicht groß – etwa zwei Meter breit – und Gabby hatte ihn mit so viel Schwung betreten, dass sie plötzlich direkt vor der schmiedeeisernen Brüstung stand, die ihr nicht einmal bis zum Bachnabel reichte.
Als sie hinunterblickte, wurde ihr schwindlig. Alles sah unscharf aus, und die Welt tief unter ihr begann sich zu drehen. Mit einem erstickten Aufschrei schloss sie die Augen.
Rafik erreichte den Balkon, als Gabbys Griff um das Geländer sich lockerte und sie nach
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