Julia Sommerliebe Band 22
hatte sie noch nie viel für Männer übrig gehabt, die solch offensichtliches Machogehabe an den Tag legten.
Sie fühlte sich eher zu den intellektuellen Typen hingezogen, zu Männern, die keine Angst hatten, ihre Gefühle und ihre Verletzlichkeit zu zeigen. Leider gab es solche Männer nicht gerade wie Sand am Meer. Manchmal war Gabby sich nicht einmal sicher, ob sie nicht nur in Büchern, Filmen und in ihrer Fantasiewelt existierten.
Rafik war es gewohnt, von jedem Menschen, der mit ihm zu tun hatte, eine gewisse Hochachtung entgegengebracht zu bekommen. Seit seiner Kindheit war er nicht so respektlos behandelt worden, und selbst damals war der einzige Mensch, der sich das erlauben konnte, seine Mutter gewesen. Es kam ihm seltsam vor, aber das unverschämte Auftreten dieser Frau machte ihn noch neugieriger, was es mit ihr auf sich hatte.
Warum lädst du sie nicht einfach zum Essen ein? Zeit genug hast du ja …
Er runzelte die Stirn über seine spöttische innere Stimme und richtete seinen Blick auf die gepflegten Fingerspitzen, mit denen sie sich die Stupsnase rieb. Eine solche Frau war ihm in seinem zweiunddreißigjährigen Leben noch nicht begegnet. Und damit meinte er nicht ihre Kleidung – obwohl es schon erstaunlich war, dass sie es schaffte, in einem derartigen Aufzug trotzdem so weiblich auszusehen.
Er beobachtete, wie sie die Hand hob und sich über das Gesicht fuhr. Ihr Haar war golden wie Honig mit helleren Nuancen und fiel ihr seidig glänzend über die Schultern.
Als er sie von Kopf bis Fuß musterte, stellte er fest, dass seine Neugierde nicht das Einzige war, was diese Frau erweckt hatte. Ein gewisses Ziehen in der Leistengegend konnte er nicht länger leugnen. Er mochte zwar todkrank sein, aber seine Libido war davon offensichtlich nicht betroffen.
Gabby hörte ihn lachen. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn empört an. „Finden Sie das etwa komisch?“
„Ich finde es erstaunlich, dass ich lache“, sagte er, und dachte: Ganz zu schweigen davon, dass ich plötzlich Lust auf eine Frau habe – auf diese Frau.
Verwirrt von der unverständlichen Antwort, warf Gabby ihm einen grimmigen Blick zu.
„Wer sind Sie, Gabby Barton?“, wollte er wissen.
Sie zog die Augenbrauen zusammen. Sein durchdringender Blick machte sie nervös. „Ich bin keine Diebin, falls Sie das denken. Ich bin nicht gekommen, um das Familiensilber mitzunehmen.“
„Das glaube ich Ihnen“, antwortete er. „Aber Sie haben sicherlich einen Grund. Warum sind Sie hier?“
Plötzlich hatte Gabby das Bedürfnis, diesem wildfremden Mann ihr Herz auszuschütten und ihm die ganze verworrene Geschichte zu erzählen. Entsetzt darüber, dass sie kurz davor war, schwach zu werden, eine hilflose Frau, die sich an der Schulter eines großen, starken Mannes ausweinte, schloss sie den Mund und schüttelte den Kopf.
Falls das Problem nur mit roher Gewalt zu lösen wäre, konnte es natürlich von Vorteil sein, ihn als Mitstreiter zu gewinnen. Aber sie gehörte nicht zu den Menschen, die ihre Probleme bei anderen abluden. Und schon gar nicht bei Fremden.
3. KAPITEL
Rafik beobachtete, wie sie den Blick senkte, bis ihre langen Wimpern fast die verschmierten Wangen berührten. Sie sagte nichts.
„Sie sind eine geheimnisvolle Frau …“
„Nein, nicht geheimnisvoll“, erwiderte sie und schüttelte erneut den Kopf.
„Wie sind Sie in den Palast gekommen?“
„Woher wollen Sie wissen, dass ich nicht eingeladen war?“
Er blickte zur Tür und hob spöttisch eine Augenbraue.
Gabby hob die schmalen Schultern. „Zugegeben, ich war nicht eingeladen“, gestand sie. „Ich habe mich gewissermaßen eingeschlichen.“
Rafik sah sie fragend an. „Eingeschlichen?“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Unmöglich. Das kann nicht sein.“ Die Ungläubigkeit schien seine Stimme noch tiefer und rauer werden zu lassen, und es überlief Gabby heiß und kalt, als er wiederholte: „Eingeschlichen? An den Wachen vorbei?“
„Ja. Im Laderaum eines Lieferwagens.“ Es war eine der Situationen gewesen, in denen man blitzschnell handelte und nicht über die Folgen nachdachte. Dazu hatte man später noch genug Zeit, zum Beispiel, wenn man in einem Zimmer in der Falle saß und bewaffnete Männer vor der Tür standen. Nicht, dass Gabby ihr Handeln auch nur eine Sekunde bereute. Hätte sie es nicht zumindest versucht, hätte sie sich das nie verziehen.
Rafik dachte an die jährlichen Ausgaben, die zur Sicherung des Palastes aufgebracht
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