Julia Sommerliebe Band 22
wurden, und biss die Zähne zusammen, weil ihm schon wieder unerwartet zum Lachen zumute war. Diese junge Frau war nicht nur ungewöhnlich, sondern auch einzigartig – allerdings hatte er die Möglichkeit, dass sie verrückt war, noch nicht ganz ausgeschlossen.
„Als er langsamer geworden ist, bin ich … bin ich rausgesprungen.“
Rafik hob die Brauen. „Der Lastwagen ist noch gefahren?“ Er versuchte sich vorzustellen, wie eine Frau aus seinem Bekanntenkreis aus einem fahrenden Wagen sprang, aber es gelang ihm nicht.
Widerwillig empfand er Bewunderung für Gabby. Wer immer sie auch sein mochte, sie war mutig – oder, besser gesagt, waghalsig. Und dieser Tag hatte Rafik gelehrt, dass Waghalsigkeit das letzte Mittel sein konnte, wenn alles andere schiefging.
„Der Lastwagen war nicht mehr besonders schnell.“ Sie hob eine Hand zur Schulter. Unter dem kurzen Ärmel ihres Hemdes kamen Schrammen und ein blauer Fleck zum Vorschein.
Besorgt runzelte er die Stirn, als er Blutflecken auf dem Baumwollstoff bemerkte. „Sind Sie verletzt?“
Er wartete nicht darauf, dass sie seine Frage verneinte. Entsetzt beobachtete Gabby, wie er mit entschlossenen Schritten zur Tür ging.
Er würde die Wache hereinlassen!
Ohne nachzudenken, warf sie sich zwischen ihn und die Tür. In nackter Panik griff sie nach seinem Arm.
Ihre Blicke trafen sich, und es folgte eine lange, nervenaufreibende Stille. Gabby nahm nichts anderes mehr wahr als seine hypnotischen, dunklen Augen und das wilde Klopfen ihres Herzens, das laut in ihren Ohren widerhallte.
Es war Rafik, der sich als Erster wieder rührte. Während er lange und hörbar ausatmete, wanderte sein Blick von ihren weit aufgerissenen, flehentlich dreinblickenden Augen zu ihrer kleinen, blassen Hand auf seinem Arm.
Gabby verfolgte seinen Blick und sah auch seine Verwunderung, die für sie unerklärlich war, aber sie ließ den Mann nicht los. Im Gegenteil, sie umfasste seinen muskulösen Arm noch fester. Vor lauter Panik ging ihr Atem stoßweise. Mit heiserer Stimme flehte sie ihn an: „Bitte lassen Sie die Wachen nicht rein.“
Rafik ließ seinen Blick über die weichen Konturen ihres Gesichtes gleiten. Ihre vollen Lippen zitterten. Durch den Schmutz in ihrem Gesicht schimmerten Sommersprossen auf ihrer Nase. Ihre blauen Augen funkelten geradezu fanatisch vor Verzweiflung. Er schüttelte den Kopf. „Ich muss. Sie brauchen einen Arzt.“
Langsam, fast widerwillig nahm Gabby die Hand von seinem Arm. Als sie sich schließlich losgerissen hatte, rieb sie sich gedankenverloren den Oberschenkel. „Nicht nötig“, sagte sie. „Mir fehlt nichts.“ Wie zum Beweis vergrößerte sie einen Riss im Hemd so weit, dass ihre Schulter und der Rand eines großen blauen Flecks sichtbar wurden. „Das ist nur ein blauer Fleck. Ich merke überhaupt nichts“, versicherte sie ihm.
Aber dann spürte sie, wie der Mann mit dem Zeigefinger vorsichtig über ihre Schulter strich. Und die Reaktion, die diese hauchzarte Berührung in ihr auslöste, war unverhältnismäßig heftig. Sie meinte, jeden einzelnen Nerv im Körper zu spüren, und eine warme, schwere Trägheit ergriff Besitz von ihren Gliedern, die sie auf einmal nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Nicht der leiseste Windhauch war im Raum zu spüren. Gabby dachte, dass es wie die Ruhe vor einem Sturm war, wo die Illusion von Sicherheit schon die Ahnung des herannahenden Orkans in sich barg.
Ihr Herz begann zu rasen, und in ihren Ohren hallte das Rauschen ihres Blutes laut wider. Die Luft knisterte förmlich vor Spannung.
Gabby bemühte sich, möglichst gleichgültig zu wirken und ruhig zu atmen, während er mit dem Finger sanft ihr Schlüsselbein entlangstrich. Unfähig, das heiße Kribbeln unter ihrer Haut und das Ziehen in ihrem Bauch länger zu ertragen, rückte sie von ihm ab.
„Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass es mir gut geht“, versetzte sie und blitzte ihn feindselig an. Ihre Blicke trafen sich und hielten einander stand. Gabby war wie hypnotisiert von dem fiebrigen Glühen, das vom Grund seiner dunklen Augen ausging.
Rafik sagte nichts. Er wartete darauf, dass sein in Wallung geratenes Blut sich beruhigte.
Was er empfunden hatte, als er ihre Haut berührt hatte, war absolut ungewöhnlich für ihn. Es musste eine Art verspätete Reaktion sein – er war sonst kein Mann, der sich von seinen Leidenschaften beherrschen ließ. Verständlicherweise würden viele Männer in seiner Situation versuchen, die bittere Wahrheit
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