Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
Revolution gefressen.
Und dennoch arbeitete sie! Während alle anderen, Oppositionelle und ehemalige Mitstreiter, sich selbst im Wege standen, betrogen, schwätzten und faulenzten, war sie fleißig und ließ sich nicht zur Demagogie hinreißen. Die Welt war krisengeschüttelt, die Oligarchen kürzten die Gehälter, Juschtschenko lag mit Russland im Streit, Janukowitsch liebedienerte vor Putin – sie aber mühte sich Tag für Tag von früh bis spät zum Wohle des ukrainischen Volkes. Damit drang sie zum Herzen des ukrainischen Wählers vor. Die Verzweiflung überwindend und verzweifelt hoffend.
Im Grunde gelang ihr das Unmögliche. Nachdem sie im ersten Wahlgang um 10 Prozent hinter Janukowitsch geblieben war (Juschtschenko, der etwas mehr als 5 Prozent errungen hatte, blieb weit hinter ihnen zurück), verkürzte Timoschenko mit letzter, ungeheuerlicher Anstrengung die Kluft auf 3 Prozent. Wobei sie nicht einmal die von allen Demokraten gewünschte Kandidatin geworden war. Und dennoch bedeuteten die Ergebnisse der Endauszählung des Zentralen Ukrainischen Wahlkomitees für Janukowitsch den Sieg. Im zweiten Wahlgang, der am 7. Februar 2010 stattfand, erreichte er 48,95 Prozent der Stimmen, Timoschenko hingegen 45,47 Prozent.
Kämpferisch bis zuletzt, versuchte sie schließlich noch, die Wahlergebnisse anzufechten. Sie legte beim Höchsten Verwaltungsgericht der Ukraine Klage ein, bestand auf einer wiederholten Zählung und behauptete, Janukowitschs Anhänger hätten wie schon 2004 am Vorabend des Maidan eine ganze Reihe von Gesetzesverletzungen zugelassen. Das Gericht nahm ihre Klage nicht an. Sie zog die Klage zurück und äußerte zu guter Letzt: »Besser gar kein Gerichtsentscheid als ein offenkundig gefälschter.«
Schon dreieinhalb Stunden brabbelt Richter Kirejew den Urteilstext vor sich hin, als Timoschenko auf einmal von der Anklagebank aufspringt. Nein, sie will damit dem Gericht keine Ehre erweisen, sondern empfindet nur die Notwendigkeit, etwas zu sagen. Sie unterbricht den verwirrten Vorsitzenden und verkündet, es läge eine Expertise der Dänischen Helsinki-Föderation für Menschenrechte über ihren Fall vor, in der die Unwahrheit der Beschuldigungen und deren politische Motiviertheit festgestellt worden seien. Timoschenko sagt, niemand könne »ihren ehrlichen Namen in den Dreck ziehen – weder Janukowitsch noch Kirejew«. Lady Ju erinnert an das Jahr 1937 in der stalinistischen UdSSR und vergleicht ihr Schicksal mit dem von Millionen Repressierten. Sie sei erfüllt von »Mitleid« mit Janukowitsch, der »sich selbst aus der Zukunft der Ukraine radiert«, weil er schwach sei. Sie hingegen sei stark und würde auch nicht eine Minute ihren »Kampf aufgeben«. Vor dem Hintergrund des unermüdlich seinen Text brabbelnden Richters und des Blitzgewitters der Fotoapparate wird ihre Stimme sehr laut: »Ich bleibe, und zusammen bauen wir eine starke, europäische Ukraine auf!«
Natürlich war das alles viel zu pathetisch, aber manchmal gibt es Momente, in denen Pathos unverzichtbar ist.
Das ist übrigens eine wichtige Frage: Wer ist stärker – der Gefangene oder der Gefängniswärter? Eine nicht mehr ganz junge Frau in einer Einzelzelle – oder der Staat, der die volle Wucht seines Rechtssystems auf sie niederschmettern lässt? Die Antwort liegt wohl auf der Hand.
Dennoch: Hier ist von Julia Timoschenko die Rede, und da sollte man keine übereilten Vorhersagen treffen.
In den ersten Wochen der Gerichtsverhandlung, als Lady Ju noch auf freiem Fuße war, erschien vielen die Entschlossenheit der Behörden, Timoschenko zur Verantwortung zu ziehen, als ein Zeichen der Stärke. Wahrscheinlich hätte man ihnen zustimmen müssen, wenn das Gericht sich auf eine überschaubare Haftstrafe beschränkt hätte. In einem solchen Fall hätte Timoschenko ebenfalls das Recht auf eine politische Tätigkeit eingebüßt, wäre aber nicht zur Märtyrerin geworden. Und Janukowitsch, der zweifelsohne das Gericht kontrollierte, hätte nicht wie ein Peiniger und Henker dagestanden. Die gesamte ukrainische Geschichte hätte eine andere Entwicklung nehmen können.
Warum eigentlich hat Viktor Janukowitsch sie hinter Gitter gebracht?
Zu diesem Punkt gibt es verschiedene Auffassungen. Experten neigen im Hinblick auf die schlichte Persönlichkeitsstruktur des ukrainischen Präsidenten zu der Auffassung, dass Janukowitsch seine Widersacherin dermaßen hasst, dass er zu rationalen Schritten nicht mehr fähig ist, wenn von ihr
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