Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
treffend »Gelegenheitsgeschäfte« genannt. Nur auf einem Gebiet tätig zu sein, war riskant. Leicht konnte man von dort vertrieben werden. Daher riss man alles an sich, was man kriegen konnte. Das Gas war nur der Ausgangspunkt für ein ganzes Unternehmenskonglomerat, das Julia Timoschenko in halsbrecherischer Geschwindigkeit aufbaute. Zur wichtigsten Triebfeder des Konzerns wurde die Tatsache, dass die verschiedensten Zweige der ukrainischen Industrie vom Gas abhängig waren wie von einer Droge. JeESU nahm von den Unternehmen auch Schuldscheine, die 50 bis 70 Prozent ihres Wertes betragen konnten. Der Konzern wechselte die Führungen dieser Unternehmen aus, wie er wollte, und wurde mit der Zeit zu ihrem Haupteigentümer. So wandelte sich JeESU von einem reinen Energiekonzern nach und nach zu einem vielgestaltigen Monster, das über Röhrenwerke, Metallhütten und Erzanreicherungsanlagen herrschte. In der Werbebroschüre der Unternehmensgruppe jener Zeit sind 20 Industrie- und Handelsfirmen, wissenschaftlich-technische Institute, Joint Ventures, eine Fluggesellschaft und zwei Banken aufgeführt. Geschäftsverbindungen unterhielt die Gruppe mit 2500 Unternehmen im ganzen Land. In nur zwei Jahren erreichte JeESU einen Umsatz von zehn Milliarden Dollar.
Ein derart sprunghaftes Wachstum gibt es in keinem Land, in dem wirkliche Marktwirtschaft herrscht. Mit Marktwirtschaft hatte JeESU auch nichts zu tun, ebenso wie sein russischer Partner Gazprom und all die anderen Monopolisten im postsowjetischen Raum. Die russische Zeitung Iswestija hat JeESU einmal einen Staat im Staate genannt. In der Kiewer Zeitschrift Serkalo Nedeli (Wochenspiegel) erschien ein Artikel unter der pfiffigen Überschrift »Die Ukraine ist JeESU beigetreten«.
Als die postsowjetischen Wirtschaftsmonster zum Staat im Staate mutierten, ließen sie damit den Geist des zusammengebrochenen Imperiums wiederauferstehen. Sie gingen jeden Schwächeren aggressiv an, schluckten ihn oder zwangen ihn in die Knie. Sie waren genauso hierarchisch und widersinnig aufgebaut wie die Zweigministerien der Sowjetzeit und daher ebenso unbeweglich und ineffizient wie jene. Die Gigantomanie der UdSSR hatten sie gleich mit übernommen. Die postsowjetische Wirtschaft mutete an wie ein »Jurassic Park« – ein von der zivilisierten Welt isoliertes Reservat für Mammut, Pterodactylus und Dinosaurier. Hätte es wirkliche Wirtschaftsreformen gegeben, dann wären diese Konzerngiganten zum Aussterben verurteilt gewesen.
Aber zu diesen Reformen kam es nicht.
Die massigen Körper der Dinosaurier waren durch einen langen Hals mit dem kleinen, hirnlosen Köpfchen der Staatsverwaltung verbunden. Eine andere Wirtschaft als die sowjetische kannten deren Kader nicht und wollten sie auch nicht kennen. Mit dem Geld der Monster lebte es sich gut, und sie waren schon zufrieden, dass in den Betrieben wieder die Schornsteine rauchten, die seit Beginn der Unabhängigkeit erkaltet waren. Dass die Wirtschaft nach dem Schock der Zerstückelung des Imperiums wieder langsam zu sich kam.
Auch die Gesellschaft sah die überstürzt zusammengezimmerten Giganten nicht nur negativ. Die Menschen, die von Chaos, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit genug hatten, blickten auf sie mit einer gewissen Hoffnung. Die Kiewskie Wedomosti (Kiewer Nachrichten) schrieben: »Man kann solche Firmen beschimpfen, hassen oder beneiden. Aber man kann nicht bestreiten, dass ihre Besitzer genügend Geist, Kompetenz, Erfolg, Beziehungen und Frechheit gehabt haben, um Strukturen und ein Denken zu schaffen, das genau zu unserem aggressiven Steuer-, Finanz- und Gesellschaftsmilieu passt.« Im gleichen Ton hieß es in der Rabotschaja gaseta (Arbeiterzeitung): »JeESU ist wahrscheinlich die einzige Struktur der ukrainischen Industrie, die dem einheimischen Warenproduzenten nicht nur mit Worten, sondern in der Tat hilft, wieder auf die Beine zu kommen.«
Anfang 1997 kontrollierte Julia Timoschenko bereits 25 Prozent der ukrainischen Wirtschaft. Die Vermögen der ukrainischen Oligarchen Achmetow, Pintschuk oder Kolomoisky mögen das Julia Timoschenkos später übertroffen haben, die Umsätze ihrer Firmen noch größer gewesen sein – russische Oligarchen spielten ohnehin in einer höheren Liga –, aber kein einziger ukrainischer oder russischer Oligarch, möglicherweise kein einziger Unternehmer dieser Welt, wenn man von den Erdölscheichs des Persischen Golfs einmal absieht, kann für sich behaupten, ein Viertel der Wirtschaft
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