Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
sie an ihre Vorgesetzten im Leninwerk. Da sie ihn durchschaute, verachtete sie ihn wie die meisten ukrainischen Politiker. Aber wirklichen Hass auf den Präsidenten, der sie später erfassen und zu unüberlegten Schritten treiben sollte, empfand sie damals nicht. Sie waren fast gleichzeitig aufgestiegen, wenn auch auf verschiedenen Ebenen. Ihr Leben gestaltete sich so, dass Julia bisher wenig über ihren Landsmann nachgedacht hatte.
Das hätte sie aber tun sollen.
Leonid Kutschma war dem Geld immer sehr zugetan. Es heißt, als der junge Leonid 1950 aus seinem Heimatdorf Tschaikino im Gebiet Tschernihiw nach Dnipropetrowsk durchbrannte, habe er sich vor allem dafür interessiert, welche Hochschule ihren Studenten das beste Stipendium zahlte. Das war damals die Physikalisch-Technische Fakultät der Universität. Dorthin ging er. Wie man Karriere machte, lernte der pragmatisch eingestellte Dorfjunge ganz von selbst – im Komsomol. Das war der kürzeste Weg zur Macht.
Der Student Kutschma, der Begabung für Naturwissenschaften zeigte, vereinigte in sich zwei lobenswerte Eigenschaften: jugendliches Ungestüm und Fleiß. Außerdem war er sehr kontaktfreudig. Er begann früh zu trinken, mochte die Komsomol-Gelage, wo man Wodka zu Speck vom Lande trank und zur Gitarre sang. Er hatte eine gute Stimme. Hier fand er auch zu seiner wichtigsten Leidenschaft. Kutschma lernte Préférence und galt bald als hervorragender Spieler. In schlaflosen Nächten im verqualmten Studentenheim besserte der ausgefuchste Kartenspieler, der wie ein Gimpel vom Dorfe wirkte, seine finanzielle Lage auf. Dabei ging er ein beträchtliches Risiko ein, denn Glücksspiel wurde im Lande nicht geduldet. Dafür konnte man aus dem Komsomol oder gar von der Universität fliegen.
Hier zeigt sich eine Ähnlichkeit mit Julia Timoschenko. Beide sind leidenschaftliche Spielernaturen. Aber Leonid Kutschma gehörte einer Generation an, die diese Leidenschaft höchstens bei den Karten oder bei Unterschlagungen im eigenen Betrieb ausleben konnte. Ihre Spiele waren sehr verschieden.
Sie traf ihren Prinzen, der einer Nomenklatura-Familie entstammte. Er heiratete die Tochter eines hohen Funktionärs aus dem Gebietsparteikomitee von Dnipropetrowsk. Das gab der Karriere des bisherigen Komsomol-Kaders einen starken Auftrieb. Zunächst Sekretär des Parteikomitees von Juschmasch, wurde Kutschma gegen Ende der Breschnew-Zeit erster Stellvertreter des Chefkonstrukteurs. In Leuten wie ihm, modernen Leitungskadern der mittleren Ebene, die an die Stelle der verknöcherten Partokraten der Breschnew-Zeit treten sollten, sah Michail Gorbatschow, der 1986 Dnipropetrowsk besuchte, seine Stütze und Hoffnung. Als der junge Generalsekretär Kutschma kennenlernte, ernannte er ihn spontan zum Direktor des gigantischen Raketenkombinats.
Aus dieser Zeit wird von ihm Unterschiedliches berichtet. Er genoss Ansehen als Fachmann. Aber er war auch gefürchtet wegen seiner Grobheit und seiner autoritären Anwandlungen. So war sein Ruf widersprüchlich: Für einen klassischen Despoten war er zu gewieft, für einen trinkenden Nomenklaturkader hatte er zu viel fachliche Kompetenz. Auf den ersten Blick schien ihn Politik wenig zu interessieren. Ein typischer sowjetischer Zyniker, der in der Öffentlichkeit erklärte, was man von ihm hören wollte, und sich im kleinen Kreis darüber lustig machte. In den Zeitungen liest er ausschließlich die letzten Seiten mit Unterhaltung und Sport. Er ist ein großer Fußballfan. Mit Unterstützung seines Unternehmens gewinnt die lokale Klubmannschaft »Dnepr«, die keiner kennt, zweimal die ukrainische Meisterschaft.
Die Enthüllungen und Diskussionen über Vergangenheit und Zukunft des Landes während der Perestroika sieht der neue Direktor kühl. »Ich bin kein Politiker, sondern Raketenbauer.« Obwohl er Mitglied des ZK der KP der Ukraine ist, gibt er sich nicht als frisch gewendeter Demokrat. Er hat das nicht nötig. Kutschma bleibt auch in der unabhängigen Ukraine, was er ist – der Direktor eines Unternehmens. Ein befehlsgewohnter, harter, mit allen Wassern gewaschener Mann, der für seinen Betrieb einsteht. Die werden von jedem Regime gebraucht.
Als Abgeordneter der Obersten Rada und später als Regierungschef unter Krawtschuk vertritt er vor allem die Interessen der Betriebsdirektoren. Selbst Fleisch vom Fleische dieser einzigartigen sowjetischen Menschengemeinschaft, verkörpert er deren typische Charakterzüge – er kann nüchtern denken
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