Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
Erklärungen abgibt, und im Grunde könnte er die hysterischen Ausfälle ignorieren. Aber im August 1997 fordert die Abgeordnete der Obersten Rada Julia Timoschenko offiziell, das Parlament möge während seiner Herbsttagung ein Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten einleiten. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit der Ukraine wird in den Mauern des Parlaments ein derartiger Antrag gestellt.
Julia Timoschenkos Partei ist die einzige, die die erbarmungslose Kritik am Präsidenten zum Hauptthema ihres Wahlkampfes macht. Es hat fast den Eindruck, man gehe nicht in Parlaments-, sondern in Präsidentenwahlen, und »Gromada« sei kollektiver Anwärter auf den höchsten Posten im Lande. Julia Timoschenko nennt Leonid Kutschma bereits einen »politischen Leichnam«. Bedenkenlos schießt sie gegen jeden in der Umgebung des Präsidenten – gegen den Chef seiner Administration, gegen Minister und gegen Regierungschef Pustowoitenko. In den Ausdrücken ist sie dabei nicht wählerisch. Die Abgeordneten von Kutschmas Parlamentsfraktion nennt sie »Schizophreniker« und sagt ihnen in Kürze ein »kritisches Stadium« dieser unheilbaren Krankheit voraus. Mit besonderer Lust fällt sie über das starke Geschlecht her: »Unser Problem ist nicht, dass wir zu wenige Politikerinnen haben, sondern dass es in der Politik keine Männer mehr gibt.«
Mit scharfer Zunge wirft Julia Timoschenko im Parlament mit Sprüchen um sich, die sofort in der Gesellschaft die Runde machen. Wenn sie vor Wählern spricht, glühen ihre Augen und ihre gut eingeübten Gesten haben fast etwas von Lenin. Sie wirkt lakonisch, leidenschaftlich und überzeugend.
Ein halbes Jahr nach ihrem ersten Sieg bei den Parlamentswahlen geht sie wieder auf Versammlungen, wie der verlorene Sohn ins Elternhaus zurückkehrt. Unter freiem Himmel spürt sie, wie sehr ihr im Plenarsaal des Parlaments oder im Büro der JeESU-Präsidentin diese elektrisierende, berauschende Luft gefehlt hat.
Sie fährt durchs Land, trifft sich mit Menschen auf Straßen, Plätzen und Fabrikhöfen, erklettert mit ihren gefährlich hohen Pumps einen wackligen Tisch, der eilig angeschleppt wird … Mit voller Brust saugt sie die Liebe der Menge ein, lässt sich von deren kollektiver Energie durchströmen. Dieses Glück ist mit nichts zu vergleichen – zu spüren, wie bei deinen Worten Tausende Augenpaare aufleuchten, wie die Herzen der Zuhörer in einem Takt mit deinem Herzen schlagen. Klein, zart und sehr weiblich, wird sie auf diesen Kundgebungen zur Tochter der Masse, zu ihrer Schwester, Frau und Geliebten.
Im Sommer 1997 beginnen auch die Journalisten die Politikerin Timoschenko zum ersten Mal ernst zu nehmen. »In die Arena der öffentlichen Politik ist eine lächelnde Abgeordnete mit wirklichem politischen Biss getreten, der vor unseren Augen immer schärfer wird«, schreibt ein politischer Beobachter mit einem Gemisch aus Staunen und Begeisterung über sie. Ein anderer zieht im Dezember 1997 folgende Bilanz: »Auch eine Marionette kann lernen: Binnen eines Jahres hat sie kolossale Fähigkeiten bewiesen.« Endlich erkennt man in ihr die selbstständige Politikerin!
Aber der beginnende politische Höhenflug der Gasprinzessin wird von ihrem wiedererwachten Paten jäh gestoppt. Das war zu erwarten gewesen. Als »Gromada« erste Kampfqualitäten zeigt, meldet Pawlo Lasarenko seinen Führungsanspruch an.
Im September 1997 findet der Kongress statt, auf dem Julia Timoschenko zur Parteiführerin gewählt werden soll. Ein Augenzeuge berichtet, dass sich die Delegierten noch eine halbe Stunde vor der Pause die Hände wund klatschten und ihr Idol bei jedem Satz mit Ovationen überschütteten. Der Opernsänger Dmitro Gnatjuk hat bereits seinen Lobgesang auf sie vorgetragen. Eine Stunde später aber wählen die Delegierten ohne Diskussion, ohne Alternativkandidaten, ja sogar ohne Parteieintrittserklärung mit schamhaft abgewendetem Blick Pawlo Lasarenko zum Vorsitzenden.
Wieder muss sie in den Schatten des in Ungnade gefallenen Ex-Regierungschefs treten. Ihr und Turtschinow passt das überhaupt nicht. Aber sie haben keine Wahl. Lasarenko gilt nach wie vor als politisches Schwergewicht. Zum Trost richtet die Partei eigens für sie ein »Schattenkabinett« ein, dessen Vorsitz sie erhält. Die Presse nennt das genüsslich den Übergang von Lady Ju »aus der Schattenwirtschaft ins Schattenkabinett«.
Bei der Parlamentswahl nimmt »Gromada« schließlich trotz eines aggressiven, hervorragend
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