Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
werden. Wenn es gelingt, eine starke Fraktion im Parlament zu etablieren, kann man Kutschma die Macht streitig machen. Damit werden die Parlamentswahlen von 1998 zur Generalprobe für die Präsidentschaftswahlen im darauffolgenden Jahr. Der dritte Präsident der Ukraine soll Pawlo Lasarenko heißen.
Julia Timoschenko wird in diesem Szenario die Hauptrolle zugewiesen. Sie steht noch in Lasarenkos Schuld. Er hat sie zur Oligarchin gemacht. Jetzt wird sie ihm helfen, den Präsidentensessel zu besteigen. Sie sind natürliche Bundesgenossen. Ihn hat man aus der Regierung verjagt, sie aus ihrem Geschäft. Sie können aber auch zusammen auf die Anklagebank geraten. Beiden drohen beträchtliche Strafen, sollten die Ermittler der Generalstaatsanwaltschaft sich ernsthaft mit JeESU befassen. Sie haben einen gemeinsamen Feind – Präsident Kutschma. Andererseits sind ihnen genügend Mittel geblieben, um eine eigene Partei zu finanzieren und Verbündete zu gewinnen. Sie besitzen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender, die sie noch vor Kurzem auf Kutschmas Geheiß erworben haben, um zu sichern, dass das Volk die Politik des Präsidenten unterstützt. Jetzt ist die Zeit gekommen, diese Waffe gegen den früheren Auftraggeber zu wenden.
Die Frage, die sich Julia Timoschenko stellt, ist denkbar einfach. Wozu das alles? Wenn sie kühl und ohne Emotionen einige Schritte vorausberechnet, dann ist das Ergebnis klar. Lasarenko wird nicht Präsident werden. Und wenn er endgültig verliert, ins Ausland flieht oder ins Gefängnis kommt, ist auch ihr Schicksal besiegelt. Dann geht es nicht mehr ums Geschäft, sondern um ihre Freiheit, um ihr Leben.
Aber hat sie eine andere Wahl? Soll sie Lasarenko fallen lassen und zu Kutschma überlaufen? Das wäre zutiefst unmoralisch, aber darum geht es nicht. Dummheit ist schlimmer als Unmoral. Dumm wäre vor allem, ihren Ruf aufs Spiel zu setzen, wenn sie Lasarenko sofort nach seinem Rücktritt den Rücken kehrte. Oder nach der Zerschlagung von JeESU. Dann wäre sie nur eine Verliererin, die niemanden interessiert. Im Sommer 1997 hat sie der Staatsmacht noch nichts zu bieten, wenn es um die Erhaltung ihres Geschäfts geht.
Bei aller nüchternen Überlegung bleibt immer noch der menschliche Faktor.
Julia Timoschenko schäumt vor Wut. Sie wird die drängende, wenn auch absolut törichte Frage nicht los: Wofür? Warum passiert so etwas gerade ihr?
Seit ihren Kindertagen, die sie im Hof des »Hauses des Taxifahrers« am Kirow-Prospekt in Dnipropetrowsk verbrachte, ist ihr ein starker Gerechtigkeitssinn eigen. Auf ihrem Hof galten harte, aber ehrliche Regeln. Was Kutschma da mit ihr treibt, ist unehrlich und ungerecht. Wie er sich hinter dem Rücken von Staatsanwälten versteckt und ihr von seinen Speichelleckern das Geld abnehmen lässt, erinnert sie der Präsident an jene Halbstarken, die den Kleineren die Kopeken für das Mittagessen in der Schule abpressten.
JeESU hat weder die geschriebenen noch die ungeschriebenen Regeln der ukrainischen Wirtschaft verletzt. Die Gasversorgung des Landes funktioniert. Russland wird seit Jahren zum ersten Mal für sein Gas bezahlt. Sie hat sich persönlich nichts vorzuwerfen. Im Gegenteil, das Land braucht ihre Firma. Sie hat Dutzende ukrainischer Unternehmen, die russisches Gas wie die Luft zum Atmen brauchen, vor dem Ruin gerettet. In der ganzen Ukraine sind Hunderttausende Arbeitsplätze erhalten oder neu geschaffen worden. Das verdiente Geld hat sie nicht nur mit Lasarenko geteilt. Dafür hat sie Kirchen wiederaufbauen lassen und in die nationale Wirtschaft investiert. Was die Steuer betrifft, hat sie nicht mehr und nicht weniger bezahlt als andere Oligarchen. Eher mehr. Der Milliardär Kolomoisky verkündet ganz offen, dass seine zwei wichtigsten Geschäftsprinzipien darin bestehen, nie Schulden oder Steuern zu bezahlen.
Eine weitere einfache Regel aus dem Ehrenkodex der Jungen auf ihrem Hof hat sie nicht vergessen: Jeder Schlag muss sofort erwidert werden. Angriff ist die beste Verteidigung. Schlagen muss man sich immer, auch wenn man keine Chance auf den Sieg hat. Man kann vieles dabei verlieren, aber man wahrt sein Gesicht und damit die Chance, sich das Verlorene eines Tages zurückzuholen. Wer sich ergibt, verliert alles und für immer. Als sie noch ihre Kooperative hatte, lernte sie zum ersten Mal echte Größen der Verbrecherwelt kennen, die damals die reale Macht im Lande waren. Sie kennt ihre Sprache und ihre Ehrbegriffe, die sich, von
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