Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
Ministerpräsidenten Nikolaj Samkowenko, den Mann, der dem Gericht im Petschersker Bezirk von Kiew vorsitzt, wo über ihr Schicksal entschieden wurde. Für den Richter, der zwischen Gesetz, Furcht vor Kutschma und der Angst, das Leben einer jungen Frau auf dem Gewissen zu haben, hin und her schwankte, war Viktor Juschtschenko der ideale Gesprächspartner. Er drängte nicht, stampfte nicht mit den Füßen auf, brüllte und fluchte nicht, zwang den Richter auch nicht, seine ehemalige Stellvertreterin auf der Stelle freizulassen. Das Gespräch war ausgesprochen ruhig und wohlwollend.
Samkowenko erklärte später, er habe Juschtschenko nicht versprochen, dass Julia Timoschenko freikomme. Er habe lediglich seine unpolitische Rechtsprechung und seine Objektivität betont. Das unpolitische Gespräch im Büro des Ministerpräsidenten brachte das Gericht zu der für Julia Timoschenko rettenden Entscheidung, sie aus der Haft zu entlassen.
Am 27. April 2001 wurde Viktor Juschtschenko als Ministerpräsident abgesetzt.
Jetzt sind sie beide in derselben Lage – aus ihren Ämtern vertrieben und in die Opposition gedrängt. Sie haben eine Menge Anhänger und im Grunde nur einen Feind – die vielköpfige Hydra der Staatsmacht. Der versammelte Westen, die USA und Europa, sehen in ihnen die Führer des demokratischen Flügels, die Reformer, die Kutschma die Ukraine bei den nächsten Wahlen entreißen können. Diese Hoffnungen im In- und Ausland werden umso stärker, je mehr sich der amtierende Präsident selbst diskreditiert. Mit einem Wort, Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko sind füreinander geschaffen.
Die Parlamentswahlen werden kaum ein Jahr später, im März 2002, fällig. Wiederum zweieinhalb Jahre danach wird der Präsident neu gewählt. Die Zeit drängt.
Julia Timoschenko hat das quälende Gefühl, dass ihr die Zeit davonläuft.
Ein Leben ohne Kampf erscheint ihr sinnlos. Ins Gefecht drängt sie nicht nur der Gedanke an Vergeltung. Im Gefängnis ist sie sich endgültig über sich selbst klar geworden. Die Antwort auf die Frage nach dem Glück und dem Sinn des Daseins ist einfach und lässt sich auf die Formel reduzieren, die ihr ein Journalist mit einem Schuss Ironie eingeflüstert hat: Jeanne d’Arc träumt vom Feuer der Revolution. Konkret auf Ort und Zeit gemünzt heißt das: Julia Timoschenko träumt von einer Revolution in der Ukraine. Sie ist bereit, sie anzuführen und zusammen mit dem Volk bis zum Ende durchzustehen. Bis zum siegreichen Ende.
Ihr Problem ist nur: Sie hat zurzeit kaum jemanden hinter sich.
Sie ruft dazu auf, sofort ein Referendum anzusetzen, bei dem dem Präsidenten das Misstrauen ausgesprochen werden soll. Das Volk hüllt sich in Schweigen. Die Politiker sind mehrheitlich dagegen. Selbst ihre Sympathisanten seufzen und wenden den Blick ab, denn sie halten die Idee für unrealistisch. Juristen erklären, ein Amtsenthebungsverfahren sei im ukrainischen Recht zwar vorgesehen, aber praktisch nicht realisierbar, weil das Parlament noch keine Regeln dafür ausgearbeitet habe. Julia Timoschenko korrigiert sich und fordert, in einem Referendum über vorgezogene Neuwahlen zu entscheiden. Sie sucht andere zu überzeugen, indem sie unwiderlegbare Argumente anführt: Verhandlungen der Opposition mit Kutschma sind sinnlos, weil er mental nicht kompromissfähig ist. Ihre Gegner schweigen. Ihre Anhänger widersprechen ihr nicht, unternehmen aber auch nichts.
Tatsächlich aber ist sie selber nicht kompromissfähig. Beide sind es nicht. Nur: Kutschma hat immer noch die Macht. Julia Timoschenko dagegen … Eine gewöhnliche Angeklagte in einem ungewöhnlichen Fall, die alles verloren hat außer ihrem Geld. Ihr politisches Gespür, das sie noch nie verlassen hat, sagt ihr: Das herrschende Regime kann und muss durch Massenproteste im ganzen Lande zu Fall gebracht werden. Immer und immer wieder bringt sie den ermordeten Journalisten ins Spiel. Aber die Gesellschaft ist des Falles Gongadse offenbar überdrüssig. Die Menschen wollen sich nicht mehr für eine Ukraine unter Kutschma und für sich selbst in dieser Ukraine schämen müssen. Die Straßenproteste werden immer weniger.
Im Jahr 2001 hatte die Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft nicht die Absicht, Kutschma zu stürzen. Das wollten nicht einmal die politisierten Hauptstädter. Die meisten Menschen hatten diese Staatsmacht mit ihren kaum noch durchschaubaren Aktionen satt, aber dieses Gefühl war bisher nicht in öffentliche Empörung
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