Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
umgeschlagen. Den anscheinend »gottgegebenen« Kutschma hatten sie selber gewählt, sogar zweimal, wem also sollten sie etwas vorwerfen? Das kollektive Gedächtnis ist selbstkritisch; darin unterscheidet sich das Volk von einer Politikerin, die das letzte einträchtige Teetrinken mit dem verhassten Feind längst vergessen hat. Im Jahr 2001 war gegenüber der korrupten und verlogenen Staatsmacht noch ironische Verachtung weitverbreitet. Wie zu Breschnews Zeiten galt das Privatleben als der beste Schutzschild vor politischem Zynismus. Die Menschen wollten Geld verdienen, sich lieben und Kinder in die Welt setzen. Nach Revolution war ihnen nicht zumute. Die Politik interessierte sie nicht mehr.
Eine derartige Haltung gegenüber dem »Verbrecherregime« bringt Julia Timoschenko in Rage.
Sie hat den Kerker erlitten und ist jetzt von der Freiheit berauscht. Niemand versteht und will erkennen, was sie ganz klar vor sich sieht: Es braucht nur eine große Zahl von Anträgen gegen den Präsidenten in der Rada, Zeltlager im Zentrum von Kiew, Millionen protestierender Menschen im ganzen Land, und der zermürbte Kutschma willigt ergeben in seinen eigenen Rücktritt ein …
Als Julia Timoschenko später eine Bilanz des Forums der nationalen Rettung zieht, verbirgt sie vor der Presse ihre Enttäuschung nicht: »Wir haben gehofft, dass der Präsident von selbst zurücktritt, wenn er den Volkszorn spürt. Das hat er nicht getan. Ich habe mich bemüht zu erreichen, dass er auf die Stimme der Menschen hört, die wollen, dass er geht. Auf über 150 Bürgerversammlungen wurde ein Referendum gefordert. Aber seine Macht war noch so stark, dass wir nicht die Zustimmung der Zentralen Wahlkommission für die Volksbefragung erwirken konnten. Wir haben uns an das Oberste Gericht gewandt. Aber dort nahm man unsere Klage nicht an und verwies uns an die Bezirksgerichte. Die wiederum behaupteten, sie seien nicht zuständig. So ist die Idee des Referendums im Keim erstickt worden.«
Die Journalisten fassen den Vorgang erbarmungslos als »Niederlage« zusammen. Aber mit einem Scheitern kann sich Julia Timoschenko unter keinen Umständen abfinden. »Ich sehe das anders«, erklärt sie auch diesmal kategorisch. »Der Präsident und seine Mannschaft sind aus Angst einem ehrlichen Kampf ausgewichen …« Und dann die bittere Erkenntnis: »… wobei sie die Gleichgültigkeit eines bedeutenden Teils der Bevölkerung nutzen konnten, die, betrogen und eingeschüchtert, sich nicht zu Massenprotesten erhoben hat.«
Gute vier Jahre später wird der Kiewer Politologe Oleksandr Kotschetkow die Zeit der »Front zur Nationalen Rettung« den kompliziertesten Abschnitt in der politischen Biografie Julia Timoschenkos nennen. »Sie war immer mittendrin. Aber alle ihre hektischen Aktionen konnten nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen, weil sie verfrüht waren. Es bestand noch nicht die direkte Gefahr, Janukowitsch könnte Präsident werden. Die Misserfolge verbitterten Julia Timoschenko, zerfraßen sie innerlich. Sie hörte schon den Siegesschrei der Marschkolonnen der Revolution, aber sie wollten und wollten nicht kommen.
Mehr und mehr nahm sie damals den Wunsch für Realität. Zu einer Kundgebung erschienen 5000 Menschen. Sieger brauchen andere Zahlen, also wurde der Presse mitgeteilt, es seien 50 000 gewesen. Die Leute wollten nicht für eine Idee in Zelten frieren? Also wurde zwar gezahlt, aber behauptet, in den Reihen der Bewegung seien nur freiwillige Idealisten. ›Sieg um jeden Preis‹, ›Der Zweck heiligt die Mittel‹, ›Die Masse muss glauben, nicht verstehen‹, ›Der Feind meines Feindes ist mein Freund‹ und so weiter und so fort – bis zu der Behauptung, die um Juschtschenko für die Präsidentenwahl versammelte Mannschaft sei eine Truppe von Gleichgesinnten. In Wirklichkeit konnte von Einheit keine Rede sein, ja nicht einmal von ausreichendem gegenseitigen Verständnis …«
Ein bezahlter Journalist, der sich hinter einem Pseudonym versteckt, verfasst in dieser Zeit ein widerlich verklärendes Opus über sie. Julia blättert geschmeichelt in dem bestellten Werk. Ihr gepanzerter Mercedes kollidiert in Kiew mit dem Lada eines Anfängers. Sie behauptet sofort, man habe einen Mordanschlag auf sie verübt.
All das ist eine ausgewachsene menschliche Tragödie, die fast zu psychischer Erkrankung führt. Eine Generalin ohne Truppen, eine Revolutionärin ohne Revolution, die markanteste Politikerin in einem Lande, in dem die Politik
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