Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
Winterschlaf hält und die Ideologie tot ist. Sie fühlt sich alleingelassen, gekränkt, aus der Lebensbahn geworfen, von niemandem verstanden. Und in all diesen endlosen Tagen, Monaten und Jahren hängt das Damoklesschwert eines neuen Strafverfahrens über ihr, muss sie nachts von einer Zelle träumen, deren Tür weit offen steht.
Nein, sie war nicht zu Kreuze gekrochen und hatte niemandem etwas versprochen, um wieder freizukommen. Die Mitarbeiter des Lukjaniwska-Gefängnisses, all die Aufseher und Wachposten sollten noch lange ihren Kindern die schreckliche Geschichte von der eisernen Lady Timoschenko erzählen, die, zart, schwach und krank, der Kerker nicht beugen konnte. In Wahrheit diente der billige Tratsch von ihrem Einlenken einem ganz anderen Zweck. Mit der Freilassung zielte die Staatsmacht vor allem auf Julia Timoschenkos ohnehin nicht fleckenlosen Ruf. Von nun an hatte sie nicht nur die Last einer ehemaligen Oligarchin zu schleppen, sondern auch noch die einer Vorstrafe. Das Lukjaniwska-Gefängnis sollte auf alle einen langen Schatten werfen – auf seine einstmalige Insassin, auf die Oppositionellen, die sich ihr anschlossen, auf jeden, der künftig eine politische Allianz mit Julia Timoschenko wagen sollte.
Das ist einer der Gründe, weshalb Viktor Juschtschenko zunächst zögert, mit ihr ein neues Bündnis einzugehen.
Aber nicht der Einzige. Juschtschenko hat sein eigenes Spiel, das leicht zu durchschauen ist, wenn man seinen Charakter und seinen politischen Stil kennt. Als Kutschma ihn aus dem Amt jagt, hat Juschtschenko erreicht, was er wollte. Er ist mit dem Heiligenschein eines Reformers gegangen, der für seine demokratische Überzeugung gelitten hat. Der vorsichtige, unentschlossene Juschtschenko zieht sich zunächst völlig aus der Politik zurück. Das raten ihm seine Erfahrung und seine politische Biografie. Er hat von dem verstorbenen Wadim Hetman gelernt, dass man sich nie mehr Feinde machen soll als nötig, denn die Vergeltung kann rasch und erbarmungslos sein. Das ist nicht Feigheit, sondern Pragmatismus. Nicht umsonst sagen die alten Chinesen: Wenn man lange genug an einem Fluss sitzt, sieht man früher oder später die Leiche des Feindes vorübertreiben. Viktor Juschtschenko sitzt am Fluss und wartet, dass es den Präsidentenstuhl an sein Ufer trägt. Juschtschenko, den man einmal den »geheimnisvollsten Politiker der Ukraine« genannt hat, ist keineswegs von Geheimnissen umweht. Er vermeidet einfach jähe Bewegungen und scharfe Worte. Er deckt seine Karten nicht auf, weil er weiß, dass mit dem größten Préférence-Spieler des Landes eine lange Partie bevorsteht. Im Unterschied zur rasenden und doch kraftlosen Julia Timoschenko erscheint der schweigende Juschtschenko am Ende als der seriösere Politiker.
Er gibt sich seinen Betrachtungen hin. Sein Haus steht bislang noch am Rande der politischen Schlachten. In seiner Vermeidung der Konflikte liegt ein Körnchen Weisheit. Darin ist er seinem Volk näher als die heftige Revolutionärin Timoschenko.
Sein Ziel ist der Sieg bei den Parlaments- und später auch bei den Präsidentenwahlen. Ein friedlich errungener, eindrucksvoller Sieg, der alle zufriedenstellt. Er sieht sich absolut nicht an der Spitze revolutionärer Massen. Er will nicht kämpfen. Er möchte sich viel lieber gütlich einigen. Mit Kutschma, mit den Oligarchen und mit der Opposition, denen er nach Möglichkeit alle ihre Wünsche erfüllen will. Dem scheidenden Präsidenten Immunität. Den Haien der Geschäftswelt Straffreiheit. Einzelnen Oppositionellen einen Platz an der Macht. Zu seinen Bedingungen, über die er sich noch nicht endgültig im Klaren ist.
Juschtschenko weiß noch nicht einmal, ob er tatsächlich an die Spitze der Ukraine treten will. So ist er eben. Andere – ob aus der Umgebung Kutschmas oder aus den Kreisen der Opposition – sind bereit, sich für das Präsidentenamt gegenseitig an die Gurgel zu gehen, Rivalen ins Gefängnis zu werfen oder zu kompromittieren. Aber Juschtschenko schwankt. Ihm wäre es fast lieber, als Ministerpräsident unter einem ausgeglichenen, zuverlässigen Präsidenten zu arbeiten. Zum Beispiel unter einem Präsidenten Juschtschenko. Aber einen zweiten wie ihn hat die Ukraine nicht hervorgebracht, daher sagt ihm seine Vernunft, dass er sich wohl selbst zur Wahl stellen muss. Aber er braucht eine hundertprozentige Garantie, sonst tut er keinen Schritt. Und je länger er schweigt, desto mehr steigt sein Ansehen. Denn die
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