Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
Boulevard angelegt – viel eher gedacht für geruhsame Spaziergänger als für den brausenden Autoverkehr.
Am Morgen des 21. November 2004 war der Kreschtschatik wie jeden Sonntag für den Autoverkehr gesperrt. Wegen der Kälte ließen sich kaum Passanten sehen. Als die Wahllokale für die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gerade ihre Türen öffneten, erschienen die Abgeordneten der Obersten Rada Taras Stezkiw, Wolodymyr Filenko und Roman Bessmertny aus Juschtschenkos Wahlstab mit einigen Leuten auf dem Platz. Es waren die »Feldhauptleute« der kommenden Revolution. Auf dem windigen Platz begannen sie eine Bühne aufzubauen. Bald erhielten sie Besuch von der Miliz. Die fragte, was sie da trieben. Ob sie eine offizielle Genehmigung hätten. Die hatten die Revolutionäre vorher natürlich nicht eingeholt. Die Miliz nahm ein Protokoll auf und verhängte eine Geldstrafe von 50 Griwna. Die Abgeordneten zahlten bereitwillig und bauten unter den interessierten Blicken der Milizionäre weiter an der zentralen Bühne der Revolution. Dann kamen nach und nach Menschen auf den Platz, die gerade ihre Stimme abgegeben hatten.
Gegen 17 Uhr standen um die Säule mit dem Engel bereits die ersten Zelte, die die jungen Leute von der Jugendorganisation »Pora« (die ab 2006 auch als politische Partei aktiv war) aufgeschlagen hatten. Aus Juschtschenkos Stab war zu hören, auf dem Maidan werde eine parallele Auszählung der Stimmen stattfinden. Man wollte 27 Zelte aufstellen – eines für jede Region des Landes. Am Abend erhob sich neben der Bühne eine riesige Leinwand, auf der die Ergebnisse der Befragungen vor den Wahllokalen angezeigt und Sendungen des oppositionellen »Fünften Kanals« übertragen wurden. Dann begann die Kundgebung. Als es dunkel wurde, standen auf dem Maidan bereits 50 000 Menschen.
Zehn Tage vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen hatten die Organisatoren der Protestaktionen sich den Kopf darüber zerbrochen, wie viele Menschen sie zusammenbringen könnten. Die optimistischsten Erwartungen beliefen sich auf etwa 15 000. Eine Woche später war von 25 000 die Rede. An jenem Tag fasste Juschtschenkos Stab endgültig den Beschluss, den Sieg auf der Straße zu suchen. Wie sich der Abgeordnete Taras Stezkiw erinnert, behaupteten die Skeptiker damals: »Die Leute werden nicht kommen.« Er wandte ein: »Was meint ihr, wohin die 25 000 Beobachter gehen werden, die sich aus der Westukraine nach dem Osten aufgemacht haben?« Stezkiw bekennt aber auch, als sich die entschlossensten Verfechter der Revolution ausmalten, wie die Proteste ablaufen könnten – »Zeltlager, wo Feldküchen rauchen und alles in Bewegung ist, wenn die OMON-Sondereinheiten mit ihren hölzernen Schilden anrücken« –, sei es einigen im Stab angst und bange geworden.
Am 21. November schlug die Stunde der Entschlossensten und Kompromisslosesten im Bündnis der Opposition. Die Stunde Julia Timoschenkos.
Seit vier Jahren hatte sie jedem gesagt, der es hören wollte, dass es ohne Revolution nicht gehen werde. Unmittelbar vor der Wahl krampfte sich ihr Herz vor Sorge zusammen, dass wieder keine Revolution zustande kommen könnte. Es heißt, vor dem zweiten Wahlgang habe sie allen ihren Freunden telefonisch ein und dieselbe Frage gestellt: Werden die Menschen kommen? In der Öffentlichkeit dagegen sprühte sie vor Optimismus. Andere Mitglieder von Juschtschenkos Stab sagten auf Pressekonferenzen besorgt mögliche Wahlfälschungen voraus. Julia Timoschenko strahlte. Und sprach nur vom bevorstehenden Sieg.
Am Abend des 21. November wurde bekannt, dass als Letzte die Ergebnisse aus dem Ostteil des Landes bei der Zentralen Wahlkommission eingegangen seien. Das konnte nur eines heißen: Die Behörden hatten die Ergebnisse aus dem rebellischen Westen abgewartet, um zu wissen, wie viele zusätzliche Stimmen im Osten ergänzt werden mussten, um Janukowitschs Sieg zu sichern. In dieser Nacht wurde Juschtschenko, der sich Klarheit verschaffen wollte, der Zugang zum Kommissionsvorsitzenden verwehrt. Das war ein schlechtes Zeichen. Er hatte bis zur letzten Minute darauf gehofft, dass es diesmal ehrlich zugehen werde. Eine Revolution war ihm zutiefst zuwider. Es heißt, vor der Wahl hätten seine Mitarbeiter mit ihm stundenlang den einen Satz geprobt, den er einfach nicht über die Lippen brachte: »Die Staatsmacht ist kriminell!« Aber in dieser Nacht wurde selbst Juschtschenko klar: Wenn er jetzt nichts riskierte, dann wurde ihm der
Weitere Kostenlose Bücher