Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
Sieg wieder entrissen, wie es bereits bei den Parlamentswahlen von 2002 geschehen war. In dieser Nacht erschien er im »Fünften Kanal« und rief seine Anhänger auf, sich am nächsten Morgen um 9 Uhr auf dem Maidan zu versammeln.
Jedoch am Morgen des 22. November war der Platz bei Weitem nicht so gefüllt wie am Abend zuvor. Die Arbeitswoche hatte begonnen. Das Land erstarrte in gespannter Erwartung.
Das entscheidende Signal kam von der Zentralen Wahlkommission, die kurz nach Mittag faktisch den Sieg Janukowitschs bekannt gab. Zuvor hatte Präsident Putin dem Kandidaten der Staatsmacht bereits zum zweiten Mal gratuliert. Ihm schlossen sich in der ganzen Welt nur zwei weitere Präsidenten an – Lukaschenko aus Belorussland und der vor dem Haager Tribunal angeklagte Slobodan Milošević …
Eine halbe Stunde nach der Bekanntmachung der Zentralen Wahlkommission erschien Julia Timoschenko auf der Bühne des Maidans. Sie rief zum Streik in der ganzen Ukraine auf. »Jetzt ist nicht die Zeit zu arbeiten! Jetzt müssen wir die Ukraine verteidigen!« Sogleich legte sie einen klaren Aktionsplan vor: »Wenn die Bande nicht innehält, dann blockieren wir Straßen, Eisenbahnlinien und Flugplätze.« An alle gewandt, die ihr mit angehaltenem Atem zuhörten, forderte sie, jeder möge zehn weitere Personen auf den Maidan mitbringen, »damit wir um 16 Uhr Millionen sind«.
Um 16 Uhr hatten sich auf dem Maidan 100 000 Menschen versammelt. Zum Abend waren es bereits über 200 000.
In der Vorbereitungsphase hatte sich Juschtschenkos Mannschaft nicht von vornherein auf den Maidan als den zentralen Ort der Volksproteste festgelegt. Auch andere Varianten waren im Gespräch. Als die Oppositionsführer sich für den Maidan entschieden, wussten sie, dass hier das Herz der Hauptstadt schlägt. Es ist der größte und berühmteste Platz des ganzen Landes, auf dem zusammen mit dem Kreschtschatik eine halbe Million Menschen Platz finden.
Die Wahl des Ortes erwies sich als entscheidend für den Erfolg der Revolution.
Der Mythos des Maidans, einer Kombination von monumentalem Pathos und Volksfest, bestimmte die Ausmaße der Proteste und zugleich ihr Wesen. 19 Tage lang war der Platz nun Ort eines bisher in Kiew nie da gewesenen Volksfestes. Mit einer Bühne, auf der die besten Rockgruppen des Landes auftraten, mit wehenden Fahnen, mit handgemalten Schildern und Karikaturen, mit zündenden Reden, mit den aus Schnee geformten Namen der Dutzenden Städte, aus denen die Demonstranten gekommen waren, mit Lagerfeuern, Laserstrahlern am Nachthimmel wie in einer abgefahrenen Diskothek, mit freiem Essen, mit tanzender Jugend, die sich in fantastische, orangefarbene Kostüme gehüllt hatte, mit schneller Liebe, ja selbst mit Eheschließungen.
Am vierten Tag der Demonstrationen berichtete eine 25-jährige Kiewerin den Journalisten: »Ich habe eine Tochter von drei Jahren. Wenn sie im Fernsehen sieht, was auf dem Maidan los ist, dann ruft sie immer: ›Mama! Schau mal, da wird gefeiert!‹ Und wir feiern wirklich: den Tag, an dem wir uns selbst gefunden haben. Ob wir siegen werden? Das weiß ich nicht. Ich bin keine Prophetin. Was heißt überhaupt siegen? Dass Viktor Juschtschenko siegt? Für mich ist es schon ein Sieg, dass die Menschen sich nicht mehr fürchten, auf die Straße zu gehen. Der Geist der Gemeinsamkeit, der Glaube an unsere Sache – das ist für mich der Sieg.«
Julia Timoschenko hatte auf dem Maidan auch persönlich etwas zu feiern.
Am 27. November wurde die Prinzessin 44 Jahre alt. Es war der erste Sonnabend der »Revolution in Orange«, ein besonderer Tag in ihrer Geschichte. Das erste Geschenk machte Julia Timoschenko die Oberste Rada, als sie den historischen Beschluss fasste, die Ergebnisse des zweiten Wahlganges für gefälscht zu erklären. Das war ein wichtiger Schritt zur Legitimierung von Juschtschenkos Sieg.
Das zweite Geschenk brachte der Maidan Julia Timoschenko dar. Wie Wolodymyr Filenko berichtet, fand am 27. November die größte Massendemonstration statt. Im Zentrum Kiews standen eineinhalb Millionen Menschen. »Als an jenem Sonnabend ganz Kiew auf die Straße ging und auch der Zustrom aus den Regionen seinen Höhepunkt erreichte«, erinnert sich Filenko, »sahen wir bei einem Gang durch das Stadtzentrum, dass auf dem Kreschtschatik und rund um die wichtigsten Regierungsgebäude ein Meer von Menschen stand. Sie füllten die Parks, die Straßen und Plätze. Sie waren einfach überall. Ihre Zahl erschütterte uns
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