Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
tief.«
Aus objektiver Sicht ist zu bemerken, dass die Mehrheit der Ukrainer in Kiew und in der Provinz zu Hause blieb. Sie warteten ab, hatten keine Meinung oder waren für Janukowitsch. Überhaupt hatte Juschtschenko in der Ukraine nicht wesentlich mehr Anhänger als sein Gegner. Der Unterschied war nur, dass diese bereit waren, für ihre Entscheidung zu kämpfen. Deshalb hatten sie am Ende Erfolg. Wie das in revolutionären Zeiten immer geschieht.
Am Abend forderte Oleksandr Sintschenko, der die Kundgebung leitete, die Menge auf, Julia Timoschenko zum Geburtstag zu gratulieren. Er überreichte ihr einen riesigen Strauß orangefarbener Rosen. Der Platz tobte. Sprechchöre ertönten: »Wir gratulieren!« und »Julia, Julia!« Neben ihr auf der Bühne stand ihre soeben aus London eingeflogene Tochter Jewgenia.
Aber der Maidan war nicht nur eitel Freude, Entschlossenheit und Hoffnung. Besonders in den ersten Tagen, da man nicht absehen konnte, wie die Sache ausgehen werde. Die Menschen hatten auch Angst – um ihre Verwandten, um ihre Kinder und um sich selbst.
Die authentischsten Berichte davon, was auf dem Maidan wirklich geschah, stammen von Menschen, die spontan gekommen waren, um zu protestieren. Das sagte zum Beispiel die 30-jährige Tatjana Soroka der Internetzeitung Ukrainskaja Prawda über den ersten Tag der Revolution:
»Es war vier Uhr nachts. Ich war gerade aus Viktor Juschtschenkos Wahlstab zurück, wo seine Mannschaft erklärt hatte, die Wahlen seien gefälscht, und wir sollten uns am nächsten Tag um neun auf dem Maidan einfinden. Ich sitze mit meinem Mann in der Küche und berichte ihm, was ich erlebt habe. Wir rufen Freunde an, die wie wir nicht schlafen und in den verschiedenen Fernsehprogrammen nach objektiven Informationen suchen. Wir verabreden uns für den nächsten Tag auf dem Platz.
Wir sind wie aufgezogen, streiten, schimpfen auf Kutschma, auf unser törichtes Leben und unser unglückliches Land. Und kommen zu einem Entschluss – für uns und unseren zweijährigen Sohn, der fest in seinem Bettchen schläft. Wir sind uns einig: Sollte doch Janukowitsch gewinnen, dann beschaffen wir uns Ausreisepapiere und gehen fort – so weit wie möglich, und sei es bis nach Argentinien.
Am nächsten Tag, abends. Wir gehen über den Kreschtschatik, der sich so verwandelt hat. Überall stehen Zelte. Jeder hat mitgebracht, was er kann: Medikamente, Brot, Tee, Kaffee, was der Kühlschrank so hergibt … Großmütter in abgeschabten Sachen schenken aus Thermoskannen Tee aus, verteilen Suppe und Kascha, die beliebte Buchweizengrütze. Männer, die von der Arbeit kommen, bieten jungen Burschen Zigaretten an, stecken ihnen etwas Geld zu. Uns ist kalt, wir laufen von der Präsidialadministration auf den Maidan und von dort zur Obersten Rada, wärmen uns bei einem Tee im Fußgängertunnel wieder auf, notieren, was gebraucht wird, und rufen Bekannte an: ›Wo seid ihr? Bei euch alles ruhig? Haltet durch!‹
Überall Menschen, alle in Hochstimmung, viele lächeln einem zu. Und plötzlich spürst du, dass du einfach glücklich bist, jetzt hier zu sein. Diesen erstaunlichen Zusammenhalt des ganzen Volkes, diese gegenseitige Unterstützung und dieses Wohlwollen habe nicht nur ich gespürt …
Plötzlich die Ankündigung, dass vom Bahnhof her Panzer auf den Kreschtschatik rollen. ›Die‹ haben beschlossen, Panzer gegen die Menschen in Marsch zu setzen! Ich rufe zu Hause an, wo die Kinderfrau auf unseren Kleinen aufpasst. ›Geben Sie ihm den Hörer‹, bitte ich sie, und will ihm etwas sagen, was mir ungeheuer wichtig ist. Ich schreie fast … Vielleicht ist es das letzte Mal … Die Frau hat alle Telefonnummern, sie weiß, wo sie anrufen muss, sollten wir nicht zurückkommen. Sie fleht uns an, vorsichtig zu sein und Orte zu meiden, an denen vielleicht geschossen wird. Wir spüren, wie sehr sie sich um uns ängstigt, wie auch unsere Eltern und Bekannten sich um uns sorgen.
Und doch sind sie so stolz auf uns!
Im Betrieb meines Mannes wird gestreikt. Alle ziehen auf den Maidan. Er wird am nächsten Morgen wieder da sein. ›Und wenn es zum Kampf kommt, Andrij, wirst du kämpfen?‹, frage ich ihn, und vor Schreck stockt mir der Atem. ›Klar werde ich das. Wenn unser Knirps groß ist und mich fragt, wo ich damals war, als wir für unsere Sache eintreten mussten … Was sage ich ihm, wenn ich jetzt hier herumsitze?‹«
Am nächsten Tag bleibt Tatjana zu Hause und Andrij geht auf den Maidan.
»Alle zehn
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