Julia Weihnachtsband Band 26
oft gar nicht zugehört hatte. Betsy sollte sich nicht noch mehr Gedanken machen oder falsche Vorstellungen bekommen. Sie, Wendy, hatte Greg geliebt und ihn nach seinem Tod so sehr vermisst, dass sie wirklich geglaubt hatte, nie wieder glücklich sein zu können. Doch aufgrund seiner Selbstbezogenheit war ihre Ehe nicht annähernd perfekt gewesen.
Das Schweigen in Betsys sonnigem Schlafzimmer dehnte sich aus, während Wendy die Kommode und die Nachttische aufräumte.
„Weißt du, zu den Aufgaben der Pflegerin wird es nicht gehören, Harry Geschichten vorzulesen und ihn abends ins Bett zu bringen“, sagte Betsy in Gedanken an ihren sechs Jahre alten Sohn.
Wendy drehte sich zu ihr um.
„Wenn du das also weiterhin übernehmen möchtest, würdest du Harry sehr glücklich machen. Er mag es, wenn du ihm vorliest.“
Wendy lächelte. „Ich mag es auch.“
1. KAPITEL
Wendy Winston schaltete den Motor ihres Kleinwagens ab und wandte sich dem Jungen neben ihr auf dem Beifahrersitz zu. Der sechsjährige Harry Martin blinzelte sie hinter den Gläsern seiner braun gerahmten Brille an. Eine Strickmütze bedeckte sein kurzes blondes Haar. Seine blauen Augen blickten viel zu ernst für ein Kind. Sein magerer Körper verschwand fast in einem dicken Wintermantel. In den behandschuhten Händen hielt er einen Beutel mit Spielzeugsoldaten.
„Tut mir wirklich leid, dass ich dich zur Arbeit mitnehmen muss.“
Er schob sich die Brille höher auf die Nase. „Schon gut.“
Sie wollte widersprechen. Es war nicht in Ordnung, dass er herumsitzen und Gott weiß wie lange mit seinen Plastiksoldaten spielen musste, während sie arbeitete. Es war nicht in Ordnung, dass er seine Mutter verloren hatte. Oder dass Betsys Anwalt nicht in der Stadt war, als sie starb. Vier Wochen waren vergangen, bis Anwalt Costello Wendy schließlich angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass Betsy ihr in ihrem Letzten Willen das Sorgerecht für Harry übertragen hatte, und dann noch einmal ein paar Tage, bis das Sozialamt Harry aus dem Heim holen und Wendy übergeben konnte – und dann auch nur vorübergehend.
Trotz Betsys Willenserklärung hatten die Rechte von Harrys leiblichem Vater Vorrang vor der Sorgerechtsübertragung. Doch niemand wusste, wo Harrys Vater sich aufhielt, deshalb hatte Wendy erst einmal ein Kind in Pflege, das sie brauchte, und zum ersten Mal seit zwei Jahren hatte sie jemanden, mit dem sie sich auf Weihnachten freuen konnte. Auch wenn das Sozialamt nach Harrys Vater suchte, glaubte Wendy, mindestens einen Monat Zeit zu haben, um mit Harry einkaufen zu gehen, Plätzchen zu backen und zu dekorieren. Sie würde ihr Bestes tun, um dem kleinen Jungen den schönsten Vorweihnachtsmonat seines Lebens zu bieten.
Sie lächelte. „Ich mache es wieder gut, versprochen.“
„Können wir Plätzchen backen?“
Sie jubelte innerlich. Offenbar stimmte das, was er brauchte, genau mit ihren Wünschen überein. Sie ergänzten sich perfekt. Vielleicht war das Schicksal doch nicht gar so ungnädig.
„Aber sicher können wir Plätzchen backen. Alle Sorten, die du magst.“
Ein scharfer Wind trieb ihnen gefrierenden Regen ins Gesicht, als sie über den vereisten Parkplatz zum Eingang von Barrington Candies hasteten. Wendy jonglierte mit Schirm und Handtasche und kramte nach ihrem Schlüssel, doch bevor sie ihn gefunden hatte, wurde der rechte der Flügel der gläsernen Doppeltür aufgestoßen.
Cullen Barrington stand im Eingang. Der Eigentümer von Barrington Candies, fast eins neunzig groß, mit schwarzem Haar und genauso dunklen Augen, in einem hellblauen Pullover, wahrscheinlich Kaschmir, war der Inbegriff eines Playboys. Er war reich, sah gut aus, machte sich rar und überließ Wendys Chef Paul McCoy die alltäglichen Führungsaufgaben in der Firma, während er selbst von seinem Zuhause in Miami aus bequem das große Ganze im Auge behielt. Außerdem war Cullen so sparsam, dass keinem Mitarbeiter eine Gehaltserhöhung gewährt worden war, seit er das Unternehmen von seiner Mutter übernommen hatte.
Der Geizkragen.
So bezeichnete sie den Mann insgeheim, der sie an einem Samstagnachmittag zur Arbeit einbestellt hatte. Auch wenn er zur allgemeinen Verwunderung für den Chef eingesprungen war, damit Mr McCoy einen verlängerten Weihnachtsurlaub antreten konnte, glaubte Wendy nicht, dass er sich geändert hatte und großzügig geworden war. Wahrscheinlich hatte er sie an diesem Tag gerufen, um sich mit ihrer Hilfe auf seinen Arbeitsantritt am
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