Julia
Gehorsam zog sie den Kopf ein und hielt ihre Zunge in Zaum, bis niemand mehr zu ihr herüberstarrte. Dann wandte sie ein weiteres Mal den Kopf und sah Romeo flehend an.
»Du kannst mich doch nicht heiraten und gleich wieder verlassen«, jammerte sie, »heute ist schließlich unsere Hochzeitsnacht!«
»Morgen«, flüsterte er und hätte dabei fast die Hand ausgestreckt, um ihr über die Wange zu streicheln, »werden wir lachend auf all das zurückblicken.«
»Wer weiß«, schluchzte Giulietta in ihre Handfläche, »ob wir morgen überhaupt noch leben!«
»Was auch immer geschieht«, beruhigte Romeo sie, »wir werden zusammen sein. Als Mann und Frau. Ich schwöre es dir. In dieser Welt ... oder in der nächsten.«
Das Tolomei-Grab war Teil eines riesigen Friedhofs außerhalb der Porta Tufi. Schon seit der Antike bestatteten die Leute von Siena ihre Toten jenseits der Stadtmauern, und jede vornehme Familie hatte eine alte Gruft mit einer angemessenen Anzahl verblichener Ahnen gepflegt - oder usurpiert. In dieser Stadt der Toten thronte die Grabstätte der Tolomeis wie ein Marmorschloss zwischen allen anderen. Der Großteil des Bauwerks lag unter der Erde, doch oben befand sich ein prächtiger Eingang, fast wie bei den Gräbern jener erhabenen römischen Staatsmänner, mit denen sich Messer Tolomei so gerne verglich.
Dutzende von Familienmitgliedern und engen Freunden waren an diesem traurigen Tag mit heraus zum Friedhof gekommen, um Tolomei und seine Frau zu trösten, während ihr Erstgeborener in jenem Granitsarkophag zur letzten Ruhe gebettet wurde, den Tolomei ursprünglich für sich selbst in Auftrag gegeben hatte. Es war sowohl eine Sünde als auch eine Schande, mit ansehen zu müssen, wie ein so kerngesunder junger Mann der Unterwelt übergeben wurde. Keine noch so gutgemeinten Worte konnten die wehklagende Mutter oder die weinende Zwölfjährige trösten, mit der Tebaldo seit dem Tag ihrer Geburt verlobt gewesen war. Wo sollte sie nun, da sie bereits so nahe an der Schwelle zur Frau stand und sich so an den Gedanken gewöhnt hatte, Herrin des Palazzo Tolomei zu werden, einen anderen geeigneten Ehemann finden?
Giulietta aber machte sich zu große Sorgen um ihre eigene unmittelbare Zukunft, um sich lange in Mitgefühl für ihre trauernde Familie zu ergehen. Außerdem war sie wegen des Schlafmangels erschöpft. Die Totenwache hatte die ganze Nacht gedauert, und auch Monna Antonia wirkte nun, am Spätnachmittag des folgenden Tages - nachdem sich all ihre Hoffnungen, das Leben möge doch noch in ihren Sohn zurückkehren, als nichtig erwiesen hatten -, so leichenblass und eingefallen, als wollte sie ihm in sein vorzeitiges Grab folgen. Schwer stützte sie sich auf die Arme ihrer Brüder. Nur einmal drehte sie sich nach Giulietta um, das Gesicht zu einer schaurigen Fratze des Hasses verzogen.
»Dort ist sie ja, die Natter an meinem Busen!«, fauchte sie so laut, dass alle sie hören konnten. »Hätte sie ihn nicht so schamlos ermutigt, dann hätte Romeo Marescotti nie gewagt, die Hand gegen dieses Haus zu erheben. Seht euch ihre verlogene Miene an, ihre verräterischen Tränen! Ich wette, sie gelten nicht meinem Tebaldo, sondern seinem Mörder, Romeo!« Sie spuckte zweimal auf den Boden, um den Geschmack seines Namens wieder loszuwerden. »Es ist an der Zeit, dass ihr handelt, Brüder! Steht nicht herum wie verängstigte Schafe! Gegen das Haus Tolomei wurde ein schreckliches Verbrechen verübt, und der Mörder stolziert in dem Glauben, über das Gesetz erhaben zu sein, immer noch frei durch die Stadt ...« Sie zog ein schimmerndes Stilett aus ihrem Schal und fuchtelte damit in der Luft herum. »Wenn ihr Männer seid, dann durchkämmt diese Stadt und findet ihn, wo auch immer er sich verstecken mag! Lasst eine trauernde Mutter diese Klinge in seinem schwarzen Herzen versenken!«
Nach diesem Gefühlsausbruch fiel Monna Antonia zurück in die Arme ihrer Brüder, wo sie kraftlos und elend hängenblieb, während sich die Prozession über die Steintreppe in die unterirdische Gruft hinabbewegte. Sobald alle unten versammelt waren, wurde Tebaldos verhüllter Leichnam in den Sarkophag gelegt, und ein Priester vollzog die letzten Weihen.
Während der gesamten Bestattung spähte Giulietta verstohlen in jeden Winkel und jede Nische des düsteren Raumes, um ein geeignetes Versteck ausfindig zu machen. Der Plan von Bruder Lorenzo sah nämlich vor, dass sie nach der Zeremonie in der Grabkammer zurückblieb, ohne von den
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