Julia
auf dem Boden absetzte, »wollte, dass du am Leben bleibst. Und er wollte, dass ich dir helfe.«
»Gott«, meinte Romeo, in dessen Augen plötzlich wieder etwas von seinem alten Schalk aufblitzte, »will eine ganze Menge von uns, nicht wahr?«
»Ihr hättet Euch für Eure Rückkehr keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können«, bemerkte Maestro Ambrogio, während er nach Wein und Bechern Ausschau hielt, »denn ich habe soeben erfahren ...«
»Wir haben es auch schon gehört«, fiel ihm Romeo ins Wort, »aber es ist mir egal. Ich lasse sie trotzdem nicht bei ihm. Lorenzo wollte, class ich warte, bis ich ganz der Alte bin, aber ich weiß nicht, ob das je der Fall sein wird. Wir haben Männer und Pferde. Giuliettas Schwester, Monna Giannozza, wünscht sich ebenso sehr wie wir, dass sie aus Salimbenis Fängen befreit wird.« Vom Sprechen leicht atemlos, lehnte der junge Mann sich zurück. »Als Freskenmaler kennt Ihr Euch doch in sämtlichen Häusern aus. Ihr müsst mir einen Plan vom Palazzo Salimbeni zeichnen ...«
»Entschuldigt«, unterbrach ihn Maestro Ambrogio, der verwirrt den Kopf schüttelte, »aber was genau habt Ihr gehört?«
Romeo und Bruder Lorenzo sahen sich an.
»Meines Wissens«, antwortete der Mönch in defensivem Ton, »wurde Giulietta vor einigen Wochen mit Salimbeni verheiratet. Stimmt das denn nicht?«
»Und sonst«, fragte der Maler, »habt ihr nichts gehört?«
Erneut sahen die jungen Männer sich an.
»Was meint Ihr, Maestro?« Romeo, der Schlimmes befürchtete, runzelte die Stirn. »Wollt Ihr damit sagen, dass sie schon von ihm schwanger ist?«
»Himmel, nein«, lachte der Maler, vor Freude fast ein wenig berauscht, »ganz im Gegenteil!«
Romeo betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Mir ist bewusst, dass sie nun schon seit mehr als drei Wochen bei ihm lebt ...« - das Schlucken schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten, als würde ihm von seinen eigenen Worten übel -, »aber ich hoffe, sie hat noch keinen allzu großen Gefallen an seinen Umarmungen gefunden.«
»Meine lieben Freunde«, antwortete Maestro Ambrogio, der endlich eine Flasche entdeckt hatte, »macht Euch bereit für eine höchst ungewöhnliche Geschichte.«
V.IV
Zum Lohn die Sünd?
O Vorwurf, süß erfunden!
Gebt sie zurück!
Erst im Morgengrauen schliefen Janice und ich in meinem Hotelzimmer ein. Vor lauter Familiengeschichte schwirrte uns schon der Kopf, und wir brachen beide auf einem Bett aus Dokumenten zusammen. Die ganze Nacht waren wir zwischen der Gegenwart und 1340 hin und her gesprungen, und als uns schließlich die Augen zufielen, wusste Janice beinahe genauso gut wie ich über die Tolomeis, die Salimbenis, die Marescottis und ihre Shakespeare'sehen Alter Egos Bescheid. Ich hatte ihr jeden Fetzen Papier in der Truhe unserer Mutter gezeigt, einschließlich der schäbigen Ausgabe von Romeo und Julia und des Notizbuchs voller Zeichnungen. Erstaunlicherweise erhob sie keine Einwände dagegen, dass ich das silberne Kruzifix an mich genommen hatte und seitdem um den Hals trug, sondern war mehr daran interessiert, unseren Stammbaum zu studieren und ihren eigenen Namen bis zu Giuliettas Schwester Giannozza zurückzuverfolgen, von der wir beide abstammten.
»Sieh mal«, hatte sie festgestellt, während sie das lange Dokument durchging, »da sind ja überall Giuliettas und Giannoz-zas!«
»Ursprünglich waren es Zwillinge«, hatte ich ihr erklärt und sie auf eine entsprechende Passage in einem von Giuliettas letzten Briefen an ihre Schwester hingewiesen. »Siehst du? Hier schreibt sie: Du hast oft gesagt, du seist vier Minuten jünger, aber vier Jahrhunderte älter als ich. Jetzt verstehe ich, was du meinst.«
»Das ist ja richtig unheimlich!« Janice hatte ihre Nase erneut in das Dokument gesteckt. »Womöglich sind das lauter Zwillinge! Wer weiß, vielleicht zieht sich dieses Gen durch unsere ganze Familiengeschichte!«
Doch abgesehen von der Tatsache, dass unsere mittelalterlichen Namensvetterinnen ebenfalls Zwillinge gewesen waren, konnten wir nicht viele andere Ähnlichkeiten zwischen ihrem und unserem Leben feststellen. Sie hatten in einem Zeitalter gelebt, als Frauen die stillen Opfer männlicher Fehler wurden. Uns dagegen stand es frei, unsere eigenen Fehler zu machen und das so laut hinauszuposaunen, wie wir wollten.
Erst als wir - gemeinsam - Maestro Ambrogios Tagebuch weitergelesen hatten, waren die beiden so unterschiedlichen Welten schließlich in einer Sprache verschmolzen, die
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