Julia
Vergleich zu der Platzangst und den Höllenqualen, die ich litt, während ich mit meinen wunden Knien und Ellbogen den engen Schacht hinaufkletterte. Jedes Mal, wenn es mir gelungen war, mich mit Fingerspitzen und Zehen zwanzig Zentimeter hochzuarbeiten, rutschte ich gleich darauf wieder zehn hinunter.
»Nun komm schon«, drängte mich Janice von hinten, »leg mal einen Zahn zu!«
»Warum bist du denn nicht als Erste gegangen?«, fauchte ich zurück. »Schließlich bist du doch unser großes Ass im Felsenklettern.«
»Hier ...« Sie platzierte eine Hand unter meiner eleganten Sandale. »Nimm das als Trittbrett.«
Quälend langsam kämpften wir uns ganz hinauf. Obwohl sich der Schacht im letzten Teil beträchtlich weitete - so dass Janice neben mich kriechen konnte -, blieb er doch ein ekliger Ort.
»Igitt!«, rief Janice, als sie sah, welchen Müll die Leute durch das Gitter geworfen hatten. »Das ist ja widerlich! Ist das ... ein Cheeseburger?«
»Kannst du Käse darin entdecken?«
»Sieh mal!« Sie griff nach etwas. »Ein Handy! Mal sehen ... Nein, schade. Akku leer.«
»Wenn du fertig bist mit Mülldurchwühlen, können wir dann weiterklettern?«
Wir bahnten uns mit den Ellbogen einen Weg durch Widerwärtigkeiten, die sich mit Worten nicht beschreiben ließen, bis wir schließlich den künstlerisch gestalteten Kanaldeckel erreichten, der uns von der Erdoberfläche trennte. »Wo sind wir?« Janice presste die Nase gegen das filigrane Bronzegitter, und wir blickten beide zu den vorübereilenden Beinen und Füßen hinaus. »Es scheint eine Art Platz zu sein. Sehr groß.«
»Lieber Himmel!«, rief ich aus, als mir klar wurde, dass ich diesen Platz schon viele Male gesehen hatte, wenn auch aus völlig anderer Perspektive. »Ich weiß genau, wo wir sind. Das ist der Campo.« Ich klopfte gegen den Deckel. »Autsch! Der ist ziemlich stabil!«
»Hallo? Hallo?« Janice reckte den Hals, um besser sehen zu können. »Hört mich jemand? Ist da jemand?«
Ein paar Sekunden später kam ein ungläubig dreinblickendes junges Mädchen mit einer Eiswaffel und grünen Lippen in Sicht. Sie beugte sich zu uns herunter. »Ciao«, sagte sie und lächelte dabei, als wären wir von Versteckte Kamera, »ich bin Antonella.«
»Hallo, Antonella.« Ich versuchte, Blickkontakt mit ihr herzustellen. »Sprichst du Englisch? Wir sitzen hier irgendwie fest. Meinst du, du könntest ... jemanden finden, der uns heraushilft?«
Zwanzig ausgesprochen peinliche Minuten später kehrte Antonella mit einem Paar nackten Füßen in Sandalen wieder.
»Maestro Lippi?« Ich war so erstaunt, meinen Freund, den Maler, zu sehen, dass mir die Stimme fast den Dienst versagte. »Erinnern Sie sich an mich? Ich habe auf Ihrer Couch übernachtet.«
»Natürlich erinnere ich mich!«, antwortete er strahlend. »Wie geht es Ihnen?«
»Ähm ...«, sagte ich, »meinen Sie, es wäre möglich, dieses ... Ding zu entfernen?« Ich schob meine Finger durch das Gitter. »Wir stecken irgendwie fest. Das hier ist übrigens meine Schwester.«
Maestro Lippi ging in die Knie, um uns besser sehen zu können. »Sie beide haben wohl verbotene Wege beschritten?«
Ich bedachte ihn mit meinem schüchternsten Lächeln. »Ich fürchte, ja.«
Der Maestro runzelte die Stirn. »Haben Sie ihr Grab gefunden? Haben Sie ihr die Augen gestohlen? Hatte ich Sie nicht gebeten, sie dort zu lassen, wo sie hingehören?«
»Wir haben nichts dergleichen getan ! « Ich warf einen raschen Blick zu Janice hinüber, um sicherzugehen, dass auch sie einen ausreichend unschuldigen Eindruck machte. »Wir sitzen hier in der Falle, das ist alles. Glauben Sie, dieses Ding ...« - wieder klopfte ich gegen das Kanalgitter, das sich nach wie vor ziemlich stabil anfühlte - »lässt sich irgendwie aufschrauben?«
»Natürlich«, antwortete er, ohne zu zögern, »das geht ganz einfach.«
»Sind Sie sicher?«
»Natürlich bin ich sicher!« Er hob beide Hände. »Schließlich habe ich es gemacht!«
Zum Abendessen gab es Pasta Primavera aus der Dose, aufgepeppt mit einem Zweig Rosmarin von Maestro Lippis Fensterbrett. Als Draufgabe bekamen wir eine Schachtel Pflaster für unsere Schürfwunden. Zu dritt passten wir kaum an den Tisch in seinem Atelier, weil wir uns den Platz mit etlichen Kunstwerken sowie Topfpflanzen in unterschiedlichen Stadien des Dahinwelkens teilen mussten, doch er und Janice hatten trotzdem eine Menge Spaß.
»Sie sind heute sehr still«, bemerkte der Künstler irgendwann an mich
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