Julia
gewandt, während er sich von seinem letzten Lachanfall erholte und uns Wein nachschenkte.
»Julia hatte einen kleinen Zusammenstoß mit Romeo«, erklärte Janice statt meiner. »Er hat sie mit dem Mond verglichen. Ein böses Foul.«
»Ah«, meinte Maestro Lippi, »er war gestern Abend hier. Er wirkte gar nicht glücklich. Jetzt weiß ich, warum.«
»Er war gestern Abend hier?«, wiederholte ich.
»Ja.« Der Maestro nickte. »Er hat gesagt, Sie sehen gar nicht so aus wie auf dem Bild, sondern noch viel schöner. Und viel - wie hat er noch mal gesagt? - ach ja, viel ... tödlicher.« Mit einem verschwörerischen Grinsen prostete der Maestro mir zu.
»Hat er zufällig auch erwähnt«, fragte ich, wider Willen mit leicht beleidigtem Unterton, »warum er schon die ganze Zeit schizophrene Spielchen mit mir treibt, statt mir gleich zu sagen, dass er Romeo ist? Ich habe ihn für einen anderen gehalten.«
Maestro Lippi starrte mich überrascht an. »Aber haben Sie ihn denn nicht erkannt?«
»Nein!« Frustriert fasste ich mir an den Kopf. »Ich habe ihn genauso wenig erkannt wie er mich!«
»Was genau können Sie uns über diesen Kerl erzählen?«, wandte sich Janice an den Maestro. »Wie viele Leute wissen davon, dass er Romeo ist?«
»Ich weiß bloß«, antwortete Maestro Lippi achselzuckend, »dass er nicht Romeo genannt werden will. Nur seine Familie nennt ihn so. Es ist ein großes Geheimnis. Keine Ahnung, warum. Er möchte Alessandro Santini genannt werden ...«
Ich schnappte nach Luft. »Sie haben die ganze Zeit gewusst, wie er heißt! Warum haben Sie mir das denn nicht gesagt?«
»Ich dachte, Sie wüssten es!«, gab der Maestro zurück. »Sie sind doch Julia! Vielleicht brauchen Sie eine Brille!«
»Entschuldigen Sie die dumme Frage«, mischte Janice sich ein, während sie gleichzeitig über einen Kratzer an ihrem Arm rieb, »aber woher wissen Sie denn, dass er Romeo ist?«
Maestro Lippi starrte sie verblüfft an. »Ich ... ich ...«
Sie griff nach einem weiteren Pflaster. »Erzählen Sie mir jetzt bitte nicht, dass Sie ihn aus einem früheren Leben kennen.«
»Nein«, entgegnete der Maestro stirnrunzelnd, »ich habe ihn auf dem Fresko erkannt. Im Palazzo Pubblico. Und dann habe ich auch noch den Marescotti-Adler an seinem Arm gesehen ...« - er nahm mich am Handgelenk und deutete auf die Innenseite meines Unterarms -, »genau hier. Ist Ihnen der nie aufgefallen?«
Für ein paar Sekunden befand ich mich wieder im Untergeschoss des Palazzo Salimbeni und versuchte, nicht auf Alessandros Tätowierungen zu starren, während wir über meinen mutmaßlichen Verfolger sprachen. Selbst damals war mir klar gewesen, dass es sich - im Gegensatz zu Janices kitschigem Kinderkram - nicht um Souvenirs aus zugedröhnten Semesterferien in Amsterdam handelte. Dass diese Tätowierungen wichtige Hinweise auf seine Identität bargen, hatte ich allerdings nicht begriffen. Nein, ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, an der Wand seines Büros nach Diplomen und Vorfahren Ausschau zu halten, um zu erkennen, dass ich es mit einem Mann zu tun hatte, der seine Vorzüge nicht in einem Silberrahmen zur Schau stellte, sondern sie - in welcher Form auch immer - am Leibe trug.
»Nicht, dass ich das Thema wechseln möchte«, erklärte ich und griff nach meiner Handtasche, »aber wären Sie eventuell so nett, uns etwas zu übersetzen?« Ich reichte Maestro Lippi den italienischen Text aus der Truhe meiner Mutter, den ich in der Hoffnung, einen willigen Übersetzer zu finden, schon seit Tagen mit mir herumtrug. Ursprünglich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Alessandro zu bitten, aber irgendetwas hatte mich zurückgehalten. »Wir glauben, es könnte wichtig sein.«
Der Maestro nahm den Text entgegen und überflog die Überschrift und die ersten paar Absätze. »Das ist eine Erzählung«, erklärte er ein wenig überrascht. »Sie trägt den Titel La Maledizione sul Muro ... Der Fluch an der Wand. Sie ist ziemlich lang. Sind Sie sicher, dass Sie sie hören wollen?
VI.II
Hol der Henker eure beiden Häuser!
Sie haben Würmerspeis aus mir gemacht
DER FLUCH AN DER WAND
Siena, im Jahre 1370
Es gibt eine Legende, die nicht viele Menschen kennen. Wegen der berühmten Leute, die darin verwickelt waren, wurde die Geschichte totgeschwiegen, ehe sie an die Öffentlichkeit drang. Die Geschichte beginnt mit Santa Caterina, die schon als kleines Mädchen für ihre besonderen Kräfte bekannt war. Die Leute kamen aus
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