Julia
Geduld wurde jedoch schwer geprüft, als Anfang 1340 Romeo eine Frau namens Rosalina kennenlernte. Sie war mit einem Metzger verheiratet, doch alle wuss-ten, dass es keine glückliche Ehe war. In Shakespeares Version ist Rosalina eine junge Schönheit, die Romeo mit ihrem Keuschheitsgelübde quält. In Wirklichkeit traf eher das Gegenteil zu: Rosalina war zehn Jahre älter als er und wurde seine Geliebte. Monatelang versuchte Romeo sie dazu zu bewegen, mit ihm durchzubrennen, doch sie war klug genug, ihm nicht zu trauen.
Im Jahre 1340 brachte Rosalina kurz nach Weihnachten -nicht lange, nachdem Romeo und Giulietta auf Rocca di Tentennano gestorben waren - einen Sohn zur Welt. Jeder konnte sehen, dass der Metzger nicht der Vater war. Das bedeutete zu jener Zeit einen großen Skandal, und Rosalina befürchtete, ihr Mann könnte die Wahrheit herausfinden und das Baby töten. Deshalb brachte sie den Neugeborenen zu Comandante Marescotti und bat ihn, den Jungen in seinem Hause großzuziehen.
Doch der Comandante, der ihr die Geschichte nicht glaubte, schickte sie weg. Ehe Rosalina ging, sagte sie zu ihm: »Eines Tages werdet Ihr bereuen, was Ihr mir und diesem Kind angetan habt. Eines Tages wird Gott Euch dafür strafen, dass Ihr mir heute Gerechtigkeit verwehrt!«
Der Comandante vergaß die ganze Sache, bis 1348 der Schwarze Tod in Siena Einzug hielt. Innerhalb von drei Monaten starb mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Innerhalb der Stadtmauern war die Sterblichkeit am höchsten. Auf den Straßen türmten sich die Leichen. Söhne verließen ihre Väter, Ehefrauen ihre Ehemänner. Alle hatten zu große Angst, um sich daran zu erinnern, was es hieß, ein Mensch zu sein und kein Tier.
Binnen einer einzigen Woche verlor Comandante Marescotti seine Mutter, seine Frau und alle seine fünf Kinder. Nur er allein überlebte. Nachdem er sie gewaschen und sauber angezogen hatte, legte er sie alle auf einen Wagen und brachte sie zur Kathedrale, um nach einem Priester Ausschau zu halten, der sie bestatten konnte. Doch es gab dort keine Priester mehr. Die wenigen, die noch am Leben waren, hatten alle Hände voll damit zu tun, im Krankenhaus Santa Maria della Scala, das gleich neben der Kathedrale lag, die Kranken zu versorgen. Selbst dort gab es so viele Leichen, dass die Priester es nicht mehr schafften, alle zu beerdigen, so dass sie schließlich innerhalb des Krankenhauses eine hohle Wand errichteten, all die Leichen hineinschichteten, und die Wand anschließend versiegelten.
Als der Comandante an der Kathedrale von Siena eintraf, waren gerade mehrere Misericordia-Brüder damit beschäftigt, auf dem Platz vor der Kirche eine große Grube für ein Massengrab auszuheben. Der Comandante steckte den Brüdern Gold zu, damit sie auch seine Familie in diesem heiligen Boden bestatteten. Er informierte sie darüber, dass es sich bei den beiden Frauen um seine Mutter und seine Ehefrau handelte, nannte ihnen außerdem die Namen und das Alter seiner Kinder und machte sie darauf aufmerksam, dass alle ihre schönste Kirchenkleidung trugen. Den Männern aber war das egal. Sie nahmen sein Gold und kippten die Ladung des Wagens einfach in die Grube, so dass der Comandante mit ansehen musste, wie alle seine Lieben - seine Zukunft - ohne Gebet oder Segen in der Grube verschwanden und mit ihnen jede speranza ... jede Hoffnung.
Als er danach durch die Stadt irrte, hatte er kein Ziel mehr. Er bemerkte überhaupt nicht mehr, was um ihn herum vorging. Für ihn war es das Ende der Welt, und er klagte zu Gott, warum er ihn dazu verdammt habe, am Leben zu bleiben, um dieses Elend mit anzusehen und seine Kinder zu beerdigen. In seiner Verzweiflung ließ er sich auf die Knie fallen, schöpfte mit beiden Händen das schmutzige, nach Verwesung und Tod stinkende Wasser aus dem Rinnstein und schüttete es sich über den Kopf. Einen Teil trank er sogar, weil er hoffte, dadurch endlich krank zu werden und wie alle anderen zu sterben.
Während er dort im Schlamm kniete, hörte er plötzlich eine Jungenstimme sagen: »Das habe ich auch schon versucht. Es funktioniert nicht.«
Der Comandante blickte hoch und meinte, einen Geist vor sich zu haben. »Romeo!«, rief er aus. »Romeo? Bist du das?«
Aber es war nicht Romeo, sondern nur ein sehr schmutziger, etwa achtjähriger Junge in Lumpen. »Mein Name ist Romanino«, stellte der Junge sich vor. »Ich kann diesen Karren für Euch ziehen.«
»Warum möchtest du meinen Karren ziehen?«, fragte der
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