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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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hinausblickte. Er hörte mich nicht kommen. Als ich ihm eine Hand auf die Schulter legte, warf er einen Blick in mein Gesicht und begann vor Glück zu weinen. Das war ein guter Tag. Es gab ein großes Abendessen, und mein Onkel erklärte, nun würden sie mich nie wieder gehen lassen. Anfangs war ich nicht sicher, ob ich überhaupt bleiben wollte. Ich hatte nie in Siena gelebt und verband mit der Stadt viele schlechte Erinnerungen. Außerdem war mir klar, dass sich die Leute das Maul über mich zerreißen würden, sobald sie erfuhren, wer ich war. Die Ereignisse der Vergangenheit geraten nie wirklich in Vergessenheit. Dann aber geschah etwas Schlimmes. Beim Juli-Palio lieferte Aquila das schlimmste Rennen aller Zeiten. Ich glaube, in der ganzen Geschichte des Palio hat noch nie eine Contrade auf so furchtbare Weise verloren wie die unsere. Erst lagen wir das ganze Rennen über in Führung, aber dann, in der letzten Kurve, zieht plötzlich Pantera an uns vorbei und gewinnt.« Seufzend durchlebte er diesen Moment im Geiste noch einmal. »Es gibt keine schlimmere Art, einen Palio zu verlieren. Wir standen alle unter Schock. Im August-Palio galt es dann, unsere Ehre zu verteidigen, doch unser fantino - unser Jockey - wurde bestraft. Wir wurden alle bestraft. Im folgenden Jahr durften wir nicht mitmachen, und im Jahr darauf ebenfalls nicht: Wir waren von der Teilnahme ausgeschlossen. Nenn es Politik, wenn du magst, aber in meiner Familie hatten wir das Gefühl, dass mehr dahintersteckte.
    Mein Großvater regte sich so auf, dass er einen Herzanfall erlitt, als ihm klar wurde, dass es nun zwei Jahre dauern konnte, bis der Adler wieder am Palio teilnahm. Er war siebenundachtzig. Drei Tage später ist er gestorben.« Alessandro hielt inne und wandte den Blick ab. »Ich habe diese drei Tage an seinem Bett verbracht. Er war sehr wütend auf sich selbst, weil er so viel Zeit verschwendet hatte. Nun wollte er mir noch so lange wie möglich ins Gesicht sehen. Zuerst dachte ich, er wäre böse auf mich, weil ich der Familie wieder Unglück gebracht hatte, doch dann erklärte er mir, es sei nicht meine Schuld. Er selbst sei schuld, weil er das nicht schon viel früher begriffen habe.«
    Ich musste nachfragen. »Was genau hätte er denn begreifen sollen?«
    »Das mit meiner Mutter. Ihm war inzwischen klar, dass alles, was ihr passiert war, passieren musste. Mein Onkel hat fünf Mädchen, keine Jungen. Ich bin der einzige Enkelsohn, der den Familiennamen trägt. Da meine Mutter bei meiner Geburt nicht verheiratet war, wurde ich mit ihrem Namen getauft. Verstehst du?«
    Ich richtete mich kerzengerade auf. »Was für eine dämliche, chauvinistische ...«
    »Giulietta, bitte!« Er zog mich zurück an seine Schulter. »Wenn du nicht zuhörst, wirst du es nie verstehen. Mein Großvater hatte begriffen, dass es ein altes Übel gab, das nach vielen Generationen wieder erwacht war und mich auserwählt hatte, weil ich diesen Namen trug.«
    Ich spürte, wie sich die feinen Härchen an meinen Armen aufrichteten. »Auserwählt ... wozu?«
    »An dieser Stelle ...«, antwortete Alessandro, während er mir erneut nachschenkte, »kommen wir endlich zu Karl dem Großen.«
     

VII.II
    Der Aff ist tot, ich muss ihn wohl beschwören.
    Nun wohl: Bei Rosalindens hellem Auge,
     Bei ihrer Purpurlipp' und hohen Stirn
     
    DIE PEST UND DER RING
    Siena, in den Jahren 1340-1370
     
    Die Marescottis sind eine der ältesten vornehmen Familien von Siena. Man nimmt an, dass der Name von Marius Scotus abgeleitet ist, einem schottischen General aus der Armee Karls des Großen. Die meisten Marescottis ließen sich in Bologna nieder, aber die Familie schlug auch andernorts Wurzeln, und der Sieneser Zweig war besonders bekannt für seinen Mut und seine Führungsrolle in Krisenzeiten.
    Wie wir jedoch wissen, bleibt selbst Großes nicht auf ewig groß. Der Ruhm der Marescottis bildete da keine Ausnahme, so dass sich heutzutage kaum noch jemand an ihre glorreiche Vergangenheit in Siena erinnert. Allerdings befasst sich die Geschichtsschreibung ja seit jeher mehr mit Menschen, die ihr Leben der Zerstörung widmen, als mit jenen, die sich für Schutz und Erhaltung einsetzen.
    Romeo wurde geboren, als die Familie noch großes Ansehen genoss. Sein Vater, Comandante Marescotti, wurde wegen seiner maßvollen Art und seines Anstands von allen geschätzt. Dieses Ansehen konnte sein Sohn trotz seines liederlichen, ausschweifenden Lebenswandels nicht mindern.
    Comandante Marescottis

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