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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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Tochter und ihrem Enkelsohn zu erlauben, zum ersten Mal seit Alessandros Geburt nach Siena zurückzukehren, und der Junge wurde kurz vor dem Palio im Adlerbrunnen getauft. In jenem Jahr aber verlor die Contrade beide Palios auf verheerende Weise, und der alte Marescotti suchte nach einem Schuldigen. Als er erfuhr, dass seine Tochter ihrem kleinen Jungen vor dem Rennen die Ställe gezeigt hatte - und ihm dabei erlaubt hatte, das Pferd zu berühren -, gelangte er zu der Überzeugung, dass das der Grund war: Der kleine Bastard hatte der ganzen Contrade Unglück gebracht.
    Er hatte seine Tochter angeschrien, sie solle mit ihrem Bankert nach Rom zurückkehren und erst wiederkommen, wenn sie einen Ehemann gefunden habe. Sie tat, wie ihr geheißen: Sie kehrte nach Rom zurück und fand dort einen sehr braven Ehemann, der bei den Carabinieri arbeitete. Dieser Mann gab Alessandro seinen Nachnamen, Santini, und zog ihn genau wie seine leiblichen Söhne mit Strenge und Liebe auf. So wurde Romeo Marescotti zu Alessandro Santini.
    Trotzdem musste Alessandro jeden Sommer einen Monat auf dem Bauernhof seiner Großeltern in Siena verbringen, damit er seine Cousinen kennenlernte und wenigstens einmal im Jahr aus der großen Stadt herauskam. Obwohl weder sein Großvater noch seine Mutter von dieser Idee allzu begeistert waren, bestand seine Großmutter darauf. Das Einzige, wozu sie den alten Marescotti nie überreden konnte, war, Alessandro zum Palio mitkommen zu lassen. Alle gingen hin - Cousinen, Onkel, Tanten -, aber Alessandro musste zu Hause bleiben, weil sein Großvater befürchtete, er könnte dem Pferd der Aquila-Contrade wieder Unglück bringen. Zumindest behauptete er das. Deswegen musste Alessandro ganz allein auf dem Bauernhof zurückbleiben, wo er seinen eigenen Palio veranstaltete, indem er auf dem alten Ackergaul herumritt. Später lernte er, wie man Mopeds und Motorräder reparierte, und sein persönlicher Palio wurde genauso gefährlich wie der echte. Am Ende wollte er gar nicht mehr nach Siena zurück, denn jedes Mal, wenn er dort war, quälte ihn sein Großvater mit Kommentaren über seine Mutter, die - aus gutem Grund - nie zu Besuch kam. Als Alessandro schließlich mit der Schule fertig war, ging er wie sein Vater und seine Brüder zu den Carabinieri und tat alles in seiner Macht Stehende, um endlich zu vergessen, dass er Romeo Marescotti war. Von da an nannte er sich nur noch Alessandro Santini und entfernte sich so weit von Siena, wie er nur konnte, indem er sich freiwillig zu Friedensmissionen im Ausland meldete. Auf diese Weise landete er schließlich im Irak, wo er sein Englisch aufbesserte, indem er wütende Streitgespräche mit den Amerikanern führte, die dort Verteidigungsanlagen bauten, und nur ganz knapp dem Schicksal entrann, in Stücke gerissen zu werden, als Aufständische einen Lastwagen voller Sprengstoff in eine Carabinieri-Zentrale in Nassiriyah fuhren.
    Bei seinem nächsten Besuch in Siena verriet er niemandem - nicht einmal seiner Großmutter -, dass er da war, doch am Abend vor dem Palio ging er in den Stall der Contrade. Obwohl er das gar nicht vorgehabt hatte, war es ihm einfach nicht möglich fernzubleiben. Sein Onkel passte dort auf das Pferd auf, und als Alessandro sich zu erkennen gab, freute dieser Onkel sich so, dass er ihn das gelb-schwarze giubbetto - die Jacke, die der Jockey beim Rennen tragen würde - berühren ließ, damit er der Adler-Contrade Glück brachte.
    Leider bekam der Jockey der Pantera-Contrade - die mit der des Adlers rivalisierte - beim Rennen am nächsten Tag ausgerechnet besagtes giubbetto zu fassen und konnte den Aquila-Jockey und dessen Pferd dadurch so abbremsen, dass sie das Rennen verloren.
    An diesem Punkt der Geschichte wandte ich den Kopf, um Alessandro einen prüfenden Blick zuzuwerfen. »Erzähl mir jetzt bitte nicht, dass du daraus gefolgert hast, dass es deine Schuld war.«
    Er zuckte mit den Achseln. »Was hätte ich denn sonst denken sollen? Ich hatte unserem giubbetto Unglück gebracht, und wir hatten verloren. Sogar mein Onkel sah das so. Seitdem haben wir keinen einzigen Palio mehr gewonnen.«
    »Also ehrlich ...!«, begann ich.
    »Schhh!« Er legte mir leicht die Hand über den Mund. »Hör einfach zu. Danach war ich lange Zeit weg und kam erst vor ein paar Jahren nach Siena zurück. Gerade noch rechtzeitig. Mein Großvater war damals schon sehr müde. Ich weiß noch, dass er am Tag meiner Ankunft auf einer Bank saß und auf den Weinberg

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