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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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ganze Strecke Euren Karren ziehen lassen. Und jetzt teilt Ihr auch noch Euer Hühnchen mit mir.«
    »Das macht mich noch nicht zu einem großen Mann.«
    »Als ich Euch gefunden habe, habt Ihr schmutziges Wasser aus dem Rinnstein getrunken«, bemerkte der Junge, »und jetzt trinkt Ihr Wein. Für mich macht Euch das zu dem größten Mann, der mir je begegnet ist.«
     
    Am nächsten Morgen brachte Comandante Marescotti den Jungen zu seiner Tante und seinem Onkel zurück. Während sie nebeneinander die steilen Stufen Richtung Fontebranda hinuntergingen und dabei immer wieder Fäulnis und Verwesung ausweichen mussten, kam zum ersten Mal seit Tagen die Sonne heraus. Oder sie hatte jeden Tag geschienen, und der Comandante hatte es nur nicht bemerkt, weil er seine ganze Zeit in der Dunkelheit seines Zuhauses verbracht hatte, damit beschäftigt, Wasser auf Lippen zu gießen, die längst nicht mehr in der Lage waren zu trinken.
    »Wie heißt denn dein Onkel?«, fragte der Comandante, als ihm klar wurde, dass er die naheliegendste Frage noch nicht gestellt hatte.
    »Benincasa«, antwortete der Junge. »Er macht Farben. Ich mag das Blau, aber das ist teuer.« Er blickte zum Comandante hoch. »Mein Vater hat immer schöne Farben getragen, müsst Ihr wissen. Meistens Gelb, mit einem schwarzen Umhang, der aussah wie Flügel, wenn er schnell ritt. Wenn man reich ist, kann man das.«
    »Ja, wahrscheinlich«, stimmte ihm der Comandante zu.
    Vor einem Tor aus hohen Eisenstangen blieb Romanino stehen und blickte mit bedrückter Miene in den Hof hinein. »Wir sind da. Das ist Monna Lappa, meine Tante. Oder ... eigentlich ist sie gar nicht meine richtige Tante, aber sie wollte trotzdem, dass ich sie so nenne.«
    Comandante Marescotti war erstaunt über die Größe des Anwesens, er hatte sich etwas viel Bescheideneres vorgestellt. Auf dem Hof halfen gerade drei Kinder ihrer Mutter beim Ausbreiten von Wäsche, während ein ganz kleines Mädchen auf allen vieren herumkrabbelte und mit den Körnern spielte, die eigentlich für die Gänse gedacht waren.
    »Romanino!« Die Frau sprang auf, als sie den Jungen am Tor entdeckte, und nachdem sie es rasch entriegelt hatte, zog sie ihn hinein und umarmte ihn unter Tränen und Küssen. »Wir dachten schon, du wärst tot, du dummer Junge!«
    In der ganzen Aufregung achtete niemand auf das kleine Mädchen. Nur der Comandante - der bereits im Begriff gewesen war, sich unauffällig von der glücklichen Familienwiedervereinigung zu entfernen - besaß genug Geistesgegenwart, um mitzubekommen, dass die Kleine auf das offene Tor zukrabbelte. Mit ungeschickten Händen hob er sie hoch.
    Bei dieser Gelegenheit stellte Comandante Marescotti fest, dass sie ungewöhnlich hübsch war und außerdem viel bezaubernder, als man es von einem so kleinen Persönchen eigentlich erwarten konnte. Trotz seiner mangelnden Erfahrung im Umgang mit solch winzigen Wesen widerstrebte es ihm fast, die Kleine wieder an Monna Lappa auszuhändigen, so dass er einfach stehenblieb und das kleine Gesicht betrachtete. Dabei spürte er, wie sich in seiner Brust etwas regte, so als bahnte sich eine zarte Frühlingsblume ihren Weg durch den gefrorenen Boden.
    Die Faszination beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit, denn das Kleinkind begann mit sichtlichem Vergnügen, im Gesicht des Comandante herumzuklatschen und an seiner Nase und seinen Wangen zu ziehen.
    »Catermal«, rief ihre Mutter und erlöste den vornehmen Besucher, indem sie ihm das Mädchen rasch entriss. »Ich bitte um Entschuldigung, Messere !«
    »Keine Ursache, keine Ursache«, entgegnete der Comandante. »Gott hat seine Hände über Euch und die Euren gehalten, Monna Lappa. Ich glaube, Euer Haus ist gesegnet.«
    Die Frau sah ihn lange an. Dann senkte sie den Kopf. »Danke, Messere. «
    Zögernd wandte sich der Comandante zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal nach Romanino um. Der Junge stand aufrecht wie ein junger Baum, der dem Wind trotzte, doch irgendwie war das Feuer aus seinen Augen gewichen.
    »Monna Lappa«, sagte Comandante Marescotti, »ich möchte ... ich würde gerne ... ich wollte Euch fragen, ob Ihr Euch vorstellen könntet, diesen Jungen herzugeben. Ihn mir zu überlassen.«
    Die Frau starrte ihn fassungslos an.
    »Ich glaube nämlich«, fügte der Comandante rasch hinzu, »er ist mein Enkelsohn.«
    Das kam für alle höchst überraschend, sogar für den Comandante selbst. Während Monna Lappa auf dieses Geständnis fast erschrocken reagierte, war der Junge

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