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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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beim modernen Palio erzählt hatte, waren die alten Familienfehden aus dem Mittelalter noch voll im Gange, wenn auch inzwischen mit anderen Waffen.
    Eingedenk meines eigenen Tolomei-Erbes verlieh ich meinen Schritten ein wenig mehr Schwung, als ich zum zweiten Mal an diesem Tag am Palazzo Salimbeni vorbeiging, nur um Alessandro wissen zu lassen - sollte er zufällig genau in dem Moment aus dem Fenster sehen -, dass es in der Stadt einen neuen Sheriff gab.
    Ich warf einen raschen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob meine Nachricht angekommen war. Dabei fiel mir ein Mann auf, der hinter mir ging. Irgendwie passte er nicht ins Bild. Auf der Straße wimmelte es von fröhlich plappernden Touristen, Müttern mit Kinderwägen und Geschäftsleuten in Anzügen, die laut in ihre Handys sprachen und dabei wild vor sich hin gestikulierten. Dieser Mann dagegen trug einen schäbigen Trainingsanzug und eine verspiegelte Sonnenbrille, die trotzdem keinen Zweifel daran ließ, dass er gerade direkt auf meine Einkaufstüten gestarrt hatte.
    Oder hatte ich mir das nur eingebildet? Hatten mich die Abschiedsworte von Presidente Maconi nervös gemacht? Ich blieb vor einem Schaufenster stehen und hoffte sehr, der Mann würde vorbeigehen. Was er aber nicht tat. Sobald ich stand, legte er ebenfalls eine Pause ein und gab vor, ein Wandplakat zu betrachten.
    Zum ersten Mal verspürte ich die Flohbisse der Furcht, wie Janice das immer nannte. Während ich ein paarmal tief Luft holte, überlegte ich, was ich tun könnte. Im Grunde hatte ich nur eine einzige Möglichkeit, denn wenn ich einfach weiterging, würde er mit ziemlicher Sicherheit früher oder später an meiner Seite auftauchen und mir die Taschen aus der Hand reißen. Oder - noch schlimmer - er folgte mir bis zum Hotel, um zu sehen, wo ich abgestiegen war, und stattete mir später einen Besuch ab.
    Summend betrat ich den Laden, und sobald ich drinnen war, wandte ich mich an einen Verkäufer und fragte ihn, ob ich das Gebäude durch den Hintereingang verlassen könne.
    Er blickte kaum von seiner Motorradzeitschrift auf, sondern deutete einfach nur auf eine Tür an der Rückseite des Raumes.
    Zehn Sekunden später schoss ich auf eine Seitengasse hinaus und hätte fast eine Reihe dort parkender Vespas umgerannt. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand, aber das machte nichts. Hauptsache, ich hatte meine Tüten noch.
     
    Als das Taxi mich vor dem Hotel Chiusarelli absetzte, hätte ich vor lauter Dankbarkeit jeden Preis für die Fahrt bezahlt, doch als ich dem Fahrer ein zu hohes Trinkgeld gab, schüttelte er abwehrend den Kopf und gab mir das meiste davon zurück.
    »Miss Tolomei!« Direttor Rossini kam gleich aufgeregt auf mich zugestürzt, als ich das Hotel betrat. »Wo waren Sie denn? Capitano Santini war gerade hier. In Uniform! Was geht da vor?«
    »Oh!« Ich versuchte es mit einem Lachen. »Wollte er mich zum Kaffee einladen?«
    Direttor Rossini funkelte mich missbilligend an, die Augenbrauen zu zwei spitzen Bögen hochgezogen. »Ich glaube nicht, dass der Besuch des Capitano etwas mit fleischlichen Gelüsten zu tun hatte, Miss Tolomei. Ich würde Ihnen dringend raten, ihn anzurufen. Hier ...« Er reichte mir die Visitenkarte, als handle es sich dabei um eine Hostie. »Da haben Sie seine Telefonnummer, er hat sie Ihnen auf die Rückseite geschrieben, sehen Sie? Ich würde Ihnen raten ...« - da ich ihn einfach stehen ließ, war Direttor Rossini gezwungen, den Satz etwas lauter zu Ende zu führen -, »ihn unverzüglich anzurufen!«
    Ich brauchte eine gute Stunde - und mehrere Auftritte an der Rezeption -, um die Truhe meiner Mutter zu öffnen. Nachdem ich alle meine Werkzeuge, also den Hotelschlüssel, die Zahnbürste und den Telefonhörer, erschöpft hatte, lief ich hinunter und holte zuerst eine Pinzette, dann Nagelclipper, eine Nadel und schließlich einen Schraubenzieher, wobei ich mir der immer düsteren Blicke von Direttor Rossini überdeutlich bewusst war.
    Erst als ich den gesamten Mechanismus des rostigen Verschlusses auseinandergeschraubt hatte, was mit dem sehr kleinen Schraubenzieher ziemlich knifflig war, gelang es mir endlich, die Schatztruhe zu öffnen.
    Während all dieser Mühen hatten meine Hoffnungen und Spekulationen immer wildere Blüten getrieben, und als ich schließlich den Deckel aufklappte, konnte ich vor banger Erwartung kaum atmen. Da die Truhe so wenig wog, glaubte ich, es müsse sich ein zerbrechlicher - und ungeheuer wertvoller -Gegenstand darin

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