Julia
befinden. Aber wie sich herausstellte, war das ein Irrtum.
Im Grunde enthielt die Truhe hauptsächlich Papier, noch dazu langweiliges. Kein Geld, keine Aktien oder Pfandbriefe und auch keine sonstigen Wertpapiere, sondern Briefe in Umschlägen und diverse getippte Texte, die entweder zusammengeheftet oder gerollt und mit porösem Gummiband zusammengehalten waren. Die einzigen richtigen Gegenstände in der Kiste waren ein Notizbuch mit allerlei Gekritzel und Skizzen, eine billige Taschenbuchausgabe von Shakespeares Romeo und Julia sowie ein altes Kruzifix an einer Silberkette.
Ich sah mir das Kruzifix genauer an, weil ich mich fragte, ob es vielleicht extrem alt und somit irgendwie wertvoll war. Was ich jedoch bezweifelte. Selbst wenn es tatsächlich antik war, handelte es sich doch nur um Silber, und soweit ich das beurteilen konnte, hatte es nichts Besonderes an sich.
Dasselbe galt für die Taschenbuchausgabe von Romeo und Julia. Fest entschlossen, etwas Wertvolles daran zu finden, blätterte ich das Buch mehrmals durch, konnte jedoch nichts entdecken, was auch nur im Geringsten vielversprechend aussah, nicht einmal eine einzige handschriftliche Anmerkung am Rand.
Das Notizbuch dagegen enthielt ein paar interessante Skizzen, die man - mit ein bisschen gutem Willen - durchaus im Zusammenhang mit einer Schatzsuche sehen konnte. Vielleicht waren es aber auch nur Zeichnungen, die bei Museumsbesuchen oder Skulpturenausstellungen entstanden waren. Insbesondere ein Standbild hatte es meiner Mutter angetan - falls es sich hierbei tatsächlich um ihr Notizbuch und ihre Zeichnungen handelte -, und ich verstand auch, warum. Es war eine Skulptur von einem Mann und einer Frau: Der Mann kniete und hielt eine Frau in den Armen, von der ich, hätte sie nicht die Augen offen gehabt, angenommen hätte, dass sie tot war oder zumindest schlief. Das Notizbuch enthielt mindestens zwanzig verschiedene Skizzen dieses Standbildes, wobei viele sich auf Details wie die Gesichtszüge konzentrierten. Ehrlich gesagt gab mir keine einzige der Zeichnungen Aufschluss darüber, warum meine Mutter von dem Ding so besessen gewesen war.
Darüber hinaus enthielt die Kiste auch sechzehn persönliche Briefe. Sie lagen ganz unten. In fünf von ihnen flehte Tante Rose meine Mutter an, ihre »törichten Ideen« zu vergessen und nach Hause zurückzukehren. Weitere vier stammten ebenfalls von Tante Rose, aber später geschrieben. Meine Mutter hatte sie nie geöffnet. Alle übrigen waren auf Italienisch verfasst und meiner Mutter von Leuten geschickt worden, die ich nicht kannte.
Mittlerweile befanden sich in der Truhe nur noch die vielen getippten Texte. Einige wirkten verblasst und brüchig, andere waren neuer und machten einen weniger fragilen Eindruck. Die meisten waren auf Englisch geschrieben, nur einer auf Italienisch. Es handelte sich wohl nicht um Originalwerke, sondern - mit Ausnahme des italienischen Textes - durchweg um Übersetzungen, die irgendwann im Lauf der letzten hundert Jahre oder so getippt worden waren.
Als ich den Stapel durchsah, wurde mir langsam klar, dass in diesem scheinbaren Wahnsinn durchaus Methode war, und sobald ich das begriffen hatte, brauchte ich nicht mehr lange, um die Texte auf meinem Bett in einer Art chronologischen Reihenfolge anzuordnen:
MAESTRO AMBROGIOS TAGEBUCH (1340)
GIULIETTAS BRIEFE AN GIANNOZZA (1340)
DIE GESTÄNDNISSE VON BRUDER LORENZO (1340)
LA MALEDIZIONE SUL MURO (1370)
MASUCCIO SALERNITANOS DREIUNDDREISSIGSTE GESCHICHTE (1476)
LUIGI DA PORTOS ROMEO UND JULIA (1530)
MATTEO BANDELLOS ROMEO UND JULIA (1554)
ARTHUR BROOKES ROMEUS UND JULIA (1562)
WILLIAM SHAKESPEARES ROMEO UND JULIA (1597)
STAMMBAUM VON GIULIETTA UND GIANNOZZA
Nachdem ich sie alle vor mir liegen hatte, dauerte es allerdings etwas länger, bis ich mir auf die Sammlung einen Reim gemacht hatte. Die ersten vier Texte - alle aus dem 14. Jahrhundert -erschienen mir rätselhaft und oft auch fragmentarisch, während die späteren Texte verständlicher wirkten. Noch wichtiger aber war, dass die späteren Texte etwas Entscheidendes gemeinsam hatten: Bei allen handelte es sich um Versionen der Geschichte von Romeo und Julia, und sie gipfelten in derjenigen, welche die meisten Leute kannten. Shakespeares Most Excellent and Lamentable Tragedy of Romeo and Juliet.
Obwohl ich mir immer eingebildet hatte, recht viel über das Stück zu wissen, kam es für mich völlig überraschend, dass der Barde die Geschichte gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher