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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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selbst erfunden, sondern bloß von früheren Autoren übernommen hatte. Zugegeben, Shakespeare konnte genial mit Worten umgehen, und hätte er den Stoff nicht durch seine Pentameter-Maschine gejagt, dann hätte er womöglich nie eine derartige Berühmtheit erlangt. Trotzdem war - zumindest meiner bescheidenen Meinung nach - bereits das, was ursprünglich auf seinem Schreibtisch landete, eine verdammt gute Geschichte. Interessanterweise spielte die früheste Version der Geschichte, die 1476 von Masuccio Salernitano verfasst worden war, überhaupt nicht in Verona - nein, sie spielte ausgerechnet hier, in Siena.
    Diese literarische Entdeckung lenkte mich fast von der Tatsache ab, dass ich genau genommen gerade eine ziemlich heftige persönliche Enttäuschung erlebte: Die Kiste meiner Mutter enthielt absolut nichts von finanziellem Wert, und es gab auch nicht den geringsten Hinweis darauf, dass irgendwo anders ein Familienvermögen versteckt lag.
    Vielleicht hätte ich mich schämen sollen, weil ich so dachte. Vielleicht hätte ich mehr zu schätzen wissen sollen, dass ich endlich etwas in Händen hielt, das meiner Mutter gehört hatte.
    Aber ich war zu verwirrt, um nüchtern zu überlegen. Warum um alles in der Welt hatte Tante Rose geglaubt, dass etwas enorm Wertvolles im Spiel war - etwas, für das es sich lohnte, in ein Land zu reisen, das sie für den gefährlichsten aller Orte hielt, nämlich Italien? Und warum hatte meine Mutter diese Kiste voller Papier im Bauch einer Bank verwahrt? Ich kam mir inzwischen ziemlich albern vor, insbesondere, wenn ich an den Typen im Trainingsanzug dachte. Natürlich war er mir nicht gefolgt. Auch das war bestimmt nur ein Produkt meiner allzu lebhaften Phantasie gewesen.
    Ohne große Begeisterung blätterte ich die früheren Texte durch. Zwei von ihnen, Die Geständnisse von Bruder Lorenzo und Giuliettas Briefe an Giannozza, bestanden nur aus bruchstückhaften Phrasen wie »Ich schwöre bei der Jungfrau, dass ich in Übereinstimmung mit dem Willen des Himmels gehandelt habe« und »aus Angst vor den Salimbeni-Schurken den ganzen Weg nach Siena in einem Sarg«.
    Maestro Ambrogios Tagebuch ließ sich besser lesen, aber als ich es flüchtig durchsah, wünschte ich fast, dem wäre nicht so. Wer auch immer dieser Maestro gewesen sein mochte, er hatte an einem schlimmen Fall von Verbaldurchfall gelitten und Tagebuch über jede Kleinigkeit geführt, die ihm - und wie es aussah auch seinen Freunden - im Jahre 1340 passiert war. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte dieses Tagebuch nichts mit mir zu tun, und ebenso wenig mit den anderen Dingen in der Truhe meiner Mutter.
    In dem Moment fiel mein Blick auf einen Namen mitten im Text des Maestro.
    Giulietta Tolomei.
    Hektisch überflog ich im Licht meiner Nachttischlampe die ganze Seite. Aber nein, ich hatte mich nicht getäuscht. Nach ein paar einleitenden Betrachtungen über die Schwierigkeit, die perfekte Rose zu malen, hatte der wortreiche Maestro Ambrogio Seite um Seite über eine junge Frau geschrieben, die zufällig genauso hieß wie ich. War das wirklich Zufall?
    Ich ließ mich auf mein Bett sinken und begann das Tagebuch von Anfang an zu lesen, wobei ich hin und wieder Giuliettas bruchstückhafte Briefe und das, was von Bruder Lorenzos Geständnissen übrig war, auf Querverweise überprüfte. So begann meine Reise ins Siena des Jahres 1340 und meine Verbundenheit mit der Frau, die denselben Namen getragen hatte wie ich.
     

II.I
    Als solch ein Ebenbild des dürren Todes
    Sollst du verharren zweiundvierzig Stunden
     
    Siena, im Jahre 1340
     
    Oh, sie waren Narr'n des Glücks !
     
    Bereits seit drei Tagen unterwegs, spielten sie Verstecken mit dem Verhängnis und lebten von Brot so hart wie Fels. Nun endlich, am heißesten, elendsten Tag des Sommers, waren sie dem Ziel ihrer Reise so nahe, dass Bruder Lorenzo die Türme von Siena wie durch Zauberhand am schimmernden Horizont auftauchen sah. Bedauerlicherweise verlor sein Rosenkranz genau hier seine schützende Kraft.
    Während er auf seinem Pferdekarren saß und müde hinter seinen sechs berittenen Reisegefährten herschaukelte, die alle wie er Mönchskutten trugen, stellte der junge Bruder sich gerade die Köstlichkeiten vor, welche sie an ihrem Ziel erwarteten, das brutzelnde Fleisch und den wohltuenden Wein, als plötzlich ein Dutzend finster dreinblickender Reiter in einer Staubwolke aus einem Weinberg galoppierte, die kleine Reisegesellschaft einkreiste und mit blankem Schwert

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