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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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es sich bei einer Neurose nicht um eine Krankheit, sondern um einen normalen Begleitumstand des Lebens handelte, so wie Pickel. Manche haben mehr davon, andere weniger, aber nur wirklich abnormale Menschen haben gar keine. Diese bodenständige Philosophie hatte mich schon viele Male getröstet, und tat es auch jetzt wieder. Als ich ins Hotel zurückkehrte, kam Direttor Rossini wie der Bote aus Marathon auf mich zugestürzt. Offenbar konnte er es kaum erwarten, mir die Nachricht zu überbringen. «Signorina Tolomei! Wo sind Sie gewesen? Sie müssen sofort wieder aufbrechen! Auf der Stelle! Contessa Salimbeni erwartet Sie im Palazzo Pubblico! Los, los ...« - er bewegte die Hände, als wollte er einen um Essensreste bettelnden Hund verscheuchen -, »Sie dürfen sie nicht warten lassen!«
    »Moment mal!« Ich deutete auf zwei Gegenstände, die unübersehbar mitten im Raum thronten. »Das sind ja meine Koffer!«
    »Ja-ja-ja, sie sind eben gebracht worden.« »Dann würde ich jetzt gerne auf mein Zimmer gehen und ...«
    »Nein!« Direttor Rossini riss die Eingangstür auf und winkte mich hinaus. »Sie müssen sofort los!«
    »Ich habe doch gar keine Ahnung, wohin!«
    »Santa Caterina !« Obwohl ich wusste, dass er sich insgeheim über die Gelegenheit freute, mich erneut über Siena zu belehren, verdrehte er die Augen, während er die Tür wieder losließ. »Kommen Sie, ich zeichne Ihnen einen Plan!«
     
    Den Campo zu betreten war, als würde ich in eine riesige Muschel steigen. Den Rand säumten lauter Restaurants und Cafes, und genau an der Stelle, wo sich die Perle befunden hätte, saß der Palazzo Pubblico, das Gebäude, das schon seit dem Mittelalter als Rathaus diente.
    Ich blieb einen Moment stehen, um dem vielstimmigen Gemurmel zu lauschen, die umherflatternden Möwen zu beobachten und den weißen Marmorbrunnen mit dem türkisfarbenen Wasser zu bewundern, alles überspannt von einem tiefblauen Himmel - bis mich plötzlich eine Welle von Touristen, die angesichts der Pracht des riesigen Platzes in ehrfürchtiger Aufregung herandrängten, von hinten mitriss.
    Beim Zeichnen seines Planes hatte mir Direttor Rossini versichert, der Campo gelte als der schönste Platz ganz Italiens, und zwar nicht nur bei den Bewohnern von Siena selbst. Tatsächlich könne er gar nicht mehr genau sagen, wie oft schon Hotelgäste aus allen Ecken der Welt - ja sogar aus Florenz - ihm gegenüber die Pracht des Campo gepriesen hätten. Natürlich habe er protestiert und auf die vielen schönen Plätze an anderen Orten hingewiesen - bestimmt gab es die dort draußen irgendwo -, doch die Leute ignorierten seine Einwände. Starrsinnig beharrten sie darauf, Siena sei die schönste, besterhaltene Stadt des ganzen Erdkreises. Was konnte Direttor Rossini angesichts von so viel Überzeugungskraft anderes tun, als einzuräumen, dass es vielleicht tatsächlich so war?
    Ich stopfte die Wegbeschreibung in meine Handtasche und steuerte auf den Palazzo Pubblico zu. Mit seinem großen Glockenturm, der Torre del Mangia, war das Gebäude kaum zu übersehen. Direttor Rossini hatte ihn mir derart detailliert beschrieben, dass es ein paar Minuten dauerte, bis ich begriff, dass dieser Turm nicht direkt vor seinen Augen, sondern irgendwann im späten Mittelalter errichtet worden war. Er hatte von einer Lilie gesprochen, deren weiße Steinblüte, gehalten von einem langen roten Stängel, der weiblichen Reinheit ein stolzes Denkmal setze. Seltsamerweise hatte man damals auf ein Fundament verzichtet. Laut Direttor Rossini stand der Mangia-Turm schon seit mehr als sechs Jahrhunderten und wurde nur durch die Gnade Gottes und den Glauben aufrecht gehalten.
    Ich schirmte mit einer Hand die Augen ab und betrachtete nachdenklich das hohe, in die grenzenlose blaue Weite des Himmels emporragende Bauwerk. Nie zuvor war ich in einer Stadt gewesen, wo weibliche Reinheit durch ein einhundertzwei Meter hohes phallisches Objekt gefeiert wurde. Aber vielleicht sah ich das falsch.
    Das ganze Gebäude - der Palazzo Pubblico samt Turm -strahlte eine große Schwere im wörtlichen Sinn aus, als würde der Campo selbst unter seinem Gewicht nachgeben. Direttor Rossini hatte mir erklärt, falls ich daran zweifelte, solle ich mir doch vorstellen, ich würde einen mitgebrachten Ball auf den Boden legen. Egal, wo ich auf dem Campo gerade stand, der Ball würde bis zum Palazzo Pubblico hinunterrollen. Irgendetwas an diesem Bild sprach mich an. Vielleicht war es die Vorstellung, dass ein

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