Julia
wobei er seine Absichten zu dem Zeitpunkt wohl selbst noch nicht kannte -, jedenfalls wusste er spätestens jetzt, dass die Worte, die er Maestro Ambrogio gegenüber geäußert hatte, prophetischer Natur gewesen waren: Mit Giulietta in seinen Armen hörten alle anderen Frauen - frühere, gegenwärtige und zukünftige - einfach zu existieren auf.
Als Giulietta an diesem Vormittag in den Palazzo Tolomei zurückkehrte, erwartete sie dort ein höchst unerfreulicher Hagel aus Fragen und Anschuldigungen, gepfeffert mit Kommentaren über ihre ländlichen Manieren. »Vielleicht ist das unter Bauern ja üblich«, höhnte ihre Tante, während sie ihre Nichte am Arm hinter sich herzerrte, »aber hier in der Stadt gehört es sich nicht, dass eine unverheiratete Frau aus gutem Hause sich heimlich zur Beichte davonschleicht und erst Stunden später mit leuchtenden Augen und ...« - Monna Antonia hielt prüfend nach anderen verräterischen Zeichen Ausschau - »... zerzausten Haaren zurückkommt! Mit solchen Ausflügen ist nun Schluss, und wenn du unbedingt mit deinem teuren Bruder Lorenzo sprechen musst, dann tu das in Zukunft bitte unter diesem Dach. Es kommt nicht mehr in Frage«, schloss sie, während sie ihre Nichte die Treppe hochzerrte und zurück in ihre Schlafkammer stieß, »dass du dich draußen herumtreibst, wo du für jedes Tratschweib und jeden Wüstling in der Stadt leichte Beute bist!«
»O Lorenzo!«, rief Giulietta aus, als der Mönch sie schließlich in ihrem goldenen Käfig besuchen kam, »sie lassen mich nicht mehr aus dem Haus! Ich werde noch wahnsinnig!« Verzweifelt schritt sie in ihrer Kammer auf und ab und raufte sich das Haar. »Was wird er nun von mir denken? Ich habe ihm doch gesagt, dass wir uns wiedersehen - ich habe es ihm versprochen!«
»Still, meine Liebe«, antwortete Bruder Lorenzo und bedeutete ihr, sich zu setzen, »nun beruhigt Euch erst einmal. Der Herr, von dem Ihr sprecht, weiß von Eurem Kummer, und seine Zuneigung zu Euch ist dadurch eher noch gewachsen. Er bat mich, Euch zu sagen ...«
»Ihr habt mit ihm gesprochen?« Giulietta packte den Mönch an den Schultern. »Oh, Lorenzo, wenn ich Euch nicht hätte! Was hat er gesagt? Schnell, lasst es mich wissen!«
»Er bat mich ...« Der Mönch fasste unter seine Kutte und zog eine mit blauem Wachs versiegelte Pergamentrolle heraus, »Euch diesen Brief zu geben. Hier, nehmt. Er ist für Euch.«
Nachdem Giulietta den Brief entgegengenommen hatte, hielt sie ihn erst einen Moment ehrfürchtig in beiden Händen, ehe sie das Adler-Siegel aufbrach. Mit großen Augen rollte sie das Pergament auseinander und betrachtete das dichte Muster aus brauner Tinte. »Wie schön! Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemals etwas so Elegantes gesehen.« Mit diesen Worten wandte sie Bruder Lorenzo den Rücken zu und blieb einen Moment so stehen, den Blick verzückt auf ihren Schatz gerichtet. »Er ist ein Dichter! Wie schön er schreibt! Welche Kunst, welche ... Vollkommenheit. Er muss die ganze Nacht daran gearbeitet haben.«
»Wohl eher mehrere Nächte«, entgegnete Bruder Lorenzo mit einem Tropfen Zynismus in der Stimme. »Glaubt mir, dieser Brief ist das Ergebnis von viel Pergament und vielen Federn.«
»Aber diesen Teil hier verstehe ich nicht ...« Giulietta drehte sich zu ihm um, um ihm eine Passage in dem Brief zu zeigen. »Warum schreibt er, dass meine Augen nicht in mein Antlitz gehören, sondern an den Sternenhimmel? Ich nehme an, man könnte das als Kompliment auffassen, aber würde es nicht schon reichen, wenn er schriebe, dass meine Augen eine himmlische Farbe haben? Ich kann seiner Argumentation wirklich nicht ganz folgen.«
»Das ist keine Argumentation«, erklärte Bruder Lorenzo, während er ihr den Brief aus der Hand nahm, »sondern Poesie und somit irrational. Der Zweck dieser Worte ist nicht, Euch zu überzeugen, sondern Euch zu erfreuen. Ich nehme doch an, Ihr seid erfreut?«
Sie rang nach Luft. »Aber natürlich!«
»Dann«, fuhr der Mönch in steifem Ton fort, »hat der Brief seinen Zweck erfüllt. Und nun würde ich vorschlagen, wir vergessen das alles.«
»Wartet!« Giulietta riss ihm das Dokument aus den Händen, ehe er ihm Gewalt antun konnte. »Ich muss eine Antwort verfassen.«
»Das dürfte sich wohl schwierig gestalten«, gab der Mönch zu bedenken, »da Ihr weder über eine Schreibfeder noch über Tinte oder Pergament verfügt. Habe ich recht?«
»Ja«, antwortete Giulietta, nicht im Geringsten entmutigt, »aber
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