Julia
erreichten. Tatsächlich hatte sie seit ihrer Ankunft in Siena noch keine einzige Nachricht von ihrer Schwester erhalten, obwohl sie selbst schon mehrere Berichte über den schrecklichen Überfall auf ihr Zuhause an Giannozza abgeschickt und ihr bei der Gelegenheit auch von ihrem eigenen traurigen Asyl - oder neuerdings eher Gefängnis - im Palazzo Tolomei, dem Haus ihres Onkels, berichtet hatte.
Obwohl sie darauf vertraute, dass Bruder Lorenzo ihre Briefe zuverlässig und unbemerkt aus dem Haus schmuggelte, wusste Giulietta, dass der Mönch keinen Einfluss darauf hatte, was in den Händen von Fremden damit geschah. Sie hatte kein Geld, um für eine richtige Überbringung zu bezahlen, sondern musste sich auf die Freundlichkeit und Sorgfalt von Leuten verlassen, die zufällig in die Richtung ihrer Schwester reisten. Noch dazu bestand nun, da sie unter Hausarrest stand, immer die Gefahr, dass jemand Bruder Lorenzo auf dem Weg nach draußen aufhielt und von ihm verlangte, seine Taschen zu leeren.
Da sie sich der Gefahr bewusst war, begann sie ihre Briefe an Giannozza unter einer Bodendiele zu sammeln, statt sie gleich abzuschicken. Es reichte schon, dass sie Bruder Lorenzo ständig bat, ihre Liebesbriefe an Romeo zu überbringen. Sie hätte es grausam gefunden, ihn zusätzlich noch zahlreiche weitere Berichte über ihre schamlosen Aktivitäten transportieren zu lassen. So kam es, dass all die Briefe an ihre Schwester, in denen Giulietta sich ihre zukünftigen Rendezvous mit Romeo in den leuchtendsten Farben ausmalte, gesammelt unter den Bodendielen landeten, um dort auf den Tag zu warten, an dem sie es sich leisten konnte, einen Boten zu bezahlen und alle auf einmal überbringen zu lassen. Oder auf den Tag, an dem sie sie alle ins Feuer werfen würde.
Was ihre Briefe an Romeo betraf, bekam sie auf jeden einzelnen eine glühende Antwort. Wenn sie in Hunderten schrieb, antwortete er in Tausenden, und wenn sie von Zuneigung sprach, übertrumpfte er sie mit Liebe. Sie war so kühn, ihn ihr Feuer zu nennen, doch er war noch kühner und nannte sie seine Sonne. Sie wagte es, sich sie beide zusammen auf einer Tanzfläche vorzustellen, während er keinen größeren Wunsch hatte, als mit ihr allein zu sein ...
Nachdem sie einander ihre Liebe gestanden hatten, gab es für sie nur noch zwei mögliche Wege: Am Ende des einen stand die Erfüllung, am Ende des anderen Enttäuschung. Einfach so weiterzumachen wie bisher war unmöglich. So kam es, dass Giulietta eines Sonntagmorgens, als sie mit ihren Cousinen nach der Messe in San Cristoforo zur Beichte durfte, beim Betreten des Beichtstuhles feststellte, dass sich auf der anderen Seite der Trennwand kein Priester befand.
»Vergebt mir, Vater, denn ich habe gesündigt«, begann sie pflichtbewusst und legte dann eine kurze Pause ein, weil sie erwartete, der Priester werde sie wie üblich dazu auffordern, ein wenig ins Detail zu gehen.
Stattdessen flüsterte eine ganz andere Stimme: »Wie kann Liebe Sünde sein? Wenn Gott nicht wollte, dass wir lieben, warum hat er dann eine solche Schönheit wie die deine geschaffen?«
Giulietta schnappte vor Überraschung und Angst nach Luft. »Romeo?« Sie kniete sich hin und versuchte, durch das filigrane Metallgitter einen Blick auf ihr Gegenüber zu erhaschen, der ihren Verdacht bestätigte: Tatsächlich konnte sie auf der anderen Seite schemenhaft ein Lächeln ausmachen, das alles andere als priesterlich wirkte. »Wie kannst du es wagen, hierherzukommen? Meine Tante sitzt nur drei Meter von uns entfernt!«
»Ach, deine Stimme droht mir mehr Gefahr«, seufzte Romeo, »als zwanzig solche Tanten. Ich bitte dich, sprich noch einmal und vollende meinen Ruin.« Er legte eine Hand an das Gitter -in der Hoffnung, Giulietta möge seinem Beispiel folgen. Was sie prompt auch tat. Obwohl sich ihre Hände nicht berührten, spürte sie seine Wärme an ihrer Handfläche.
»Ach, wie sehr wünschte ich, wir wären einfache Bauern«, flüsterte sie, »und könnten uns sehen, wann immer wir wollten.«
»Was würden wir einfachen Bauern denn machen«, konterte Romeo, »wenn wir uns sähen?«
Giulietta war froh, dass er nicht sehen konnte, wie rot sie wurde. »Jedenfalls würde uns dann kein Gitter trennen.«
»Das«, meinte Romeo, »wäre schon mal ein kleiner Fortschritt.«
»Du«, fuhr Giulietta fort, während sie eine Fingerspitze durch das Gitter schob, »würdest zweifellos in Reimen sprechen. Das tun doch alle Männer, wenn sie spröde Mägde
Weitere Kostenlose Bücher