Julias Geheimnis
bekommen.«
Schwester Julia erkannte, was geschehen war. Wie Paloma bitter und unscheinbar geworden war, während sie zusah, wie ihr Mann mit den jungen Frauen aus dem Viertel flirtete. Wie die beiden einen Kampf austrugen, den Paloma nie gewinnen konnte, weil sie ihm keine Kinder schenken konnte und ihren Mann ein ums andere Mal verlor, mit jedem Jahr, das verging, endgültiger, bis er gar nichts mehr von ihr wissen wollte.
»Ich verlasse Barcelona«, erklärte Julia ihrer Schwester, alssie aufstand, um zu gehen. »Ich werde in einem Kloster auf Fuerteventura leben.«
Paloma nickte. Sie war nicht erstaunt. »Ich wünsche dir Glück, Julia«, sagte sie. »Ich wünsche dir Liebe.« Sie lächelte, und eine Sekunde lang sah sie der alten Paloma ähnlich, dem sorglosen, immer zum Lachen aufgelegten Mädchen.
»Ich dir auch, Schwester.« Die beiden umarmten sich. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt.«
Schwester Julia verließ Barcelona in der Karwoche. Die Straßen waren voller Menschen, die den Prozessionen und Festwagen zusahen. Erdnüsse, Schokolade und gebrannte Mandeln regneten von dort auf die Kinder am Straßenrand herunter. Vor der Kirche stand ein Priester mit einem Messbuch und einem Rosenkranz und segnete die Vorübergehenden. Die Frauen trugen mantillas – Umschlagtücher aus zarter Spitze –, schwarze, hochhackige Schuhe und schwarze Kleider; die Männer schwarze Anzüge und mit Frisiercreme zurückgekämmtes Haar. Die Menschen bekreuzigten sich und murmelten leise Gebete. Ihre Gesichter waren zum Himmel gewandt. In der Karwoche hingen die Gerüche der Feiern in der Luft – Wachs, Weihrauch, Knoblauch, Tabakrauch … Und der Duft der Orangenblüten, denn die Bäume in der Stadt blühten jetzt. Es war eine berauschende Mischung, die Schwester Julia daran erinnerte, wie die Stadt einst gewesen war, in ihrer Kindheit. Endlich hatte Spaniens Geschick sich gewendet.
Und Schwester Julia konnte sich endlich aus der Welt zurückziehen.
28. Kapitel
S ollen wir?« Andrés streckte ihr selbstbewusst die Hand entgegen.
»Das meinst du doch nicht ernst, oder?« Ruby sah zur Bühne, auf der jetzt eine neue Band stand, die Swing spielte. Einige Gäste hatten zu tanzen begonnen.
»Ich scherze nie über ernste Angelegenheiten wie das Tanzen«, erklärte er.
»Na schön.« Ruby ließ sich vom Barhocker gleiten. Wie immer, wenn sie gespielt hatte, war sie gefühlsmäßig völlig ausgelaugt und befand sich in einer Art emotionalem Niemandsland. Das war in Ordnung; denn sie steckte so viel Energie in ihre Musik, weil sie es wollte. Nur so hatte man auch viel davon. Aber nachher musste sie erst wieder herunterkommen, mit ein paar Bier oder einem großen Glas Rotwein, mit einer Kleinigkeit zu essen und leichtem Geplauder.
Tanzen gehörte nicht dazu.
Auf der Tanzfläche war es mittlerweile ziemlich voll. Andrés strebte zielbewusst in Richtung Bühne und hielt immer noch ihre Hand. Er trug verwaschene Bluejeans, ein Leinenhemd in einem hellen Grau und ein leicht verknittertes Leinensakko. Sein dichtes Haar fiel lockig über seinen Kragen. Konzentriert runzelte er die Stirn und überlegte, wo noch ein bisschen Platz war. Das machte ihr Sorgen; erwartete er wirklich von ihr, dass sie sich so viel bewegen würde? Er nahm eine Art Grundstellung für den Standardtanz ein, undes gefiel ihr ganz gut, wie er sie dann in seine Arme zog. So weit, so gut.
»Entspann dich einfach«, sagte er.
Und ehe sie wusste, wie ihr geschah, tanzten sie eine Art Swing-Jive. Er führte, und sie hielt per Osmose, Telepathie und Gebet mit. Zuerst versuchte sie, sich auf die Schritte zu konzentrieren, aber es war schwer, dem Rhythmus zu folgen, und sie stießen entweder mit den Knien zusammen oder waren auf einmal meilenweit entfernt voneinander. Ruby dachte an Mel und das, was sie ihr gesagt hatte. Springen.
Inzwischen wusste sie, warum Mel unglücklich war. Sie war kürzlich zum Abendessen bei Mel und Stuart gewesen, und Mel hatte sich ihr beim Tischabräumen anvertraut. Stuart wollte eine Familie gründen. Wie er sagte, lief ihnen die Zeit davon. Kinder zu haben, bedeutete ihm so viel.
Ruby berührte Mels Arm. »Und du nicht?«
Mel warf einen Blick zur Küchentür. Aber Stuart war ins Wohnzimmer gegangen und hatte Musik – klassische Gitarre – aufgelegt, die jetzt durch das Haus flirrte. »Ich möchte mein Leben nicht ändern, Ruby«, flüsterte sie. »Ich glaube nicht, dass ich … bereit dafür bin.«
Ruby
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