Julias Geheimnis
gelten.
Eines musste Schwester Julia noch tun, bevor sie fortging: Sie musste ihre Schwester Paloma finden und sich von ihr verabschieden.
Eines Tages Anfang März, als schon ein etwas milderer Wind wehte und es schien, als werde der Winter endlich weichen, ging Schwester Julia in die Straße, in der ihre Familie einst gelebt hatte, Tür an Tür mit Mario Vamos. Sie kehrte nicht zum ersten Mal zurück, aber dennoch stand sie mehrere Minuten da, sah zu dem Haus auf und erinnerte sich an die Zeiten mit ihrer Familie – fröhliche Momente, aber auch viel Armut und Not. Sie schaute zum Fenster des Zimmers auf, das sie mit ihren Schwestern geteilt hatte, und ihr war, als höre sie in dem Wind, der die schmale Straße entlangpfiff, wieder Palomas Geplapper und ihr mädchenhaftes Lachen.
Das Haus gehörte nicht mehr ihrer Familie, daher klopfte Schwester Julia an die Tür des Nachbarhauses, das immer noch im Besitz der Familie Vamos war. Vielleicht würde ihr sogar Paloma öffnen …
Doch es war eine alte Frau, die an die Tür kam, Marios alte Tante, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte.
»Ja, Schwester? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau höflich. Es gelang ihr nicht ganz, ihre Verblüffung darüber zu verbergen, dass eine Nonne auf ihrer Türschwelle stand.
Schwester Julia redete nicht lange drumherum. »Ich suche nach Paloma Vamos, señora «, sagte sie. »Die Sache ist dringend.«
Abneigung malte sich jetzt auf den Zügen der alten Frau ab. »Ich kenne sie«, sagte sie.
»Dann geben Sie mir doch bitte ihre Adresse.« Schwester Julia lächelte verhalten, um ihre Worte ein wenig abzumildern.
»Natürlich.« Die Frau verschwand nach drinnen und kehrte mit einem Zettel zurück, den sie Schwester Julia gab. »Hier.«
»Danke.«
Durch das Labyrinth des Ravel-Viertels ging Schwester Julia zu der Straße, deren Namen in spinnenhafter Schrift auf das Papier gekritzelt stand. Nummer fünfzehn. Das Haus wirkte trist und ungepflegt. Sie holte tief Luft und klopfte an die Tür.
Ein Mann, der ungefähr in ihrem Alter war, öffnete. Sie erkannte ihn sofort. Aber das jungenhafte gute Aussehen hatte er eingebüßt, und sein Gesicht hatte eine Härte angenommen, die sie erstaunte. Er trug eine Kappe, die er in einem kecken Winkel aufgesetzt hatte, und in seinen Augen lag noch immer eine Spur von Humor. Aber sein Mund war verkniffen, und seine Miene war nicht freundlich. » Señor Vamos?«, fragte Schwester Julia.
» Sí .« Er sah sie an ohne ein Zeichen des Erkennens. »Was kann ich für Sie tun, Schwester?«
Schwester Julia drückte den Rücken durch. Natürlich würde er sie nicht erkennen. Warum sollte er auch, nach so vielen Jahren? »Ich möchte meine Schwester Paloma besuchen«, erklärte sie.
»Ach?«
Aber hinter ihm sah sie Paloma selbst aus einem der vorderen Zimmer kommen. »Julia?« Sie schob sich an ihrem Mann vorbei und streckte ihr die Hand entgegen. »Julia?«
Schwester Julia ignorierte Mario Vamos’ neugierigen Blick, nahm Palomas Hand und ließ sich von ihr ins Haus ziehen. Als sie an ihm vorbeikam, roch sie den süßen Tabakduft, der an ihm haftete und sich mit dem Geruch von Alkohol und Schweiß mischte. Und sie registrierte, wie kühl die beiden miteinander umgingen; besonders der kurz angebundene Ton, in dem Mario mit seiner Frau sprach, fiel ihr auf.
Dann saßen Julia und Paloma sich in einem kleinen, schäbigen Zimmer auf der Vorderseite des Hauses gegenüber. Paloma hatte Kaffee gemacht, der nun auf einem Beistelltisch stand. »Julia«, sagte sie noch einmal. »Es ist schön, dich zu sehen.«
»Ich freue mich auch, Paloma.« Schwester Julia senkte den Kopf. Aber in Wahrheit war sie schockiert. Ihre Schwester hatte sich stark verändert. Ihr Haar wurde grau und wirkte struppig, ihre Augen, die früher wie Diamanten geglitzert hatten, blickten stumpf, und aus ihren einst großzügig geschwungenen Lippen war ein verbitterter Strich geworden. »Wie geht es dir?«, fragte sie.
Wie zur Antwort knallte die Haustür zu, und Schwester Julia sah Mario die Straße entlangschlendern. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und pfiff.
Paloma schloss die Augen. »Heute Abend wird er nicht nach Hause kommen«, erklärte sie.
Schwester Julia wusste nicht, was sie sagen sollte. »Dann bist du nicht glücklich?«, sagte sie schließlich. »Ihr habt keine Kinder?«
Paloma schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Kinder«, sagte sie. »Und wir werden auch keine
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