Julias Geheimnis
nahm Mel den Tellerstapel ab, den sie trug, und stellte ihn auf die Arbeitsplatte. Dann umarmte sie sie. »Niemand ist verpflichtet, Kinder zu bekommen«, murmelte sie in Mels Haare hinein. Unwillkürlich musste sie an Laura und Vivien denken. Und jetzt Mel.
Mel löste sich von ihr. »Bin ich egoistisch?«
»Vielleicht.« Ruby zuckte die Achseln. »Aber das ist dein gutes Recht, oder? Es ist dein Leben.«
Mel seufzte und bückte sich, um die Spülmaschine zu öffnen. »Unser Leben«, sagte sie.
Aber es war doch gut, eine echte Beziehung zu jemandem zu haben, selbst wenn das, was man sich wünschte, nicht immer dasselbe war, überlegte Ruby, während sie versuchte, nicht über die Tanzschritte nachzudenken.
Dann versuchte sie es anders: Sie schloss die Augen und sprang. Sie ließ los und folgte ihm, wohin er sie auch mitnehmen wollte. Sie verlor sich im Rhythmus. Und es funktionierte. Ruby leuchtete das ein. Musik hatte eine direkte Verbindung zum Herzen.
»Wo hast du das gelernt?«, schrie sie mitten in einer Drehung. Sie hatte immer gern getanzt, aber inzwischen fast vergessen, wie es ging. Und dies war eine Art von Tanz, mit der sie überhaupt keine Erfahrung hatte.
Er fing sie auf und hielt sie fest. »Ich hab das nie gelernt. Ich hab’s einfach getan.«
Hmmm. Kurz entspannte sich Ruby in seiner Umarmung. Sie fühlte sich geborgen, was ihr gefiel. Dann schleuderte er sie wieder davon. Es war berauschend, sie fühlte sich, als habe sie Champagner getrunken. Moment mal, sollte sie sich nicht besser entspannen?
Als nächstes spielte die Band eine langsamere Nummer. »Schon besser«, murmelte Ruby. Sie waren beide außer Atem.
Statt sie eng an sich zu drücken, wie es ihr am liebsten gewesen wäre, hielt er sie auf leichtem Abstand, als könne sie zerbrechen. Sie versuchte, nicht dauernd seinen Mund anzusehen. Er hatte volle Lippen, sein Kinn war ein wenig stopplig, und seine Wangenknochen waren hoch und definiert. Er strahlte etwas Ursprüngliches aus, etwas Unkompliziertes, das sie anzog. Und sie roch seinen warmen, harzigen Duft, wie Bernstein. Der Mann war wirklich sexy. In ihremlabilen Zustand musste sie aufpassen. Sie wollte sich nicht die Finger verbrennen.
Als sie kurz die Augen schloss, kam ihr Laura, ihre leibliche Mutter, in den Sinn. Laura … Wer bist du? Wo steckst du? Warum hast du das getan? Hatte sie im Lauf der Jahre manchmal an Ruby gedacht? Hatte sie je an sie gedacht?
Sie fragte sich, wie es sich angefühlt hatte, ein Kind neun Monate im Bauch zu tragen, es dann weitere sechs Monate zu versorgen und es anschließend wegzugeben. Warum hatte sie das getan? Aus egoistischen Beweggründen? Oder hatte sie Ruby etwas schenken wollen, das sie als ein besseres Leben betrachtete, ein Leben, in dem sie alles haben würde, was sie ihr nicht bieten konnte? Hatte Laura sich mit Schuldgefühlen geplagt? Oder hatte sie unbekümmert ihr Leben weitergeführt, als wäre sie nie Mutter gewesen?
Ruby versuchte, sich in Andrés’ Armen zu entspannen. Sie hatte so viele Fragen, und sie fragte sich, ob sie je Antworten auf alle erhalten würde. Denn bisher wies alles darauf hin, dass sie recht behalten hatte. Die Spur verlor sich 1976, als Laura zum ersten Mal auf Reisen gegangen war. Anscheinend war Laura eine Einzelgängerin gewesen. Und im Jahr 1976 hatte sie alle Verbindungen abgebrochen und war einfach verschwunden. Ruby hatte herausgefunden, wo Laura zur Schule gegangen war. Ihr Name hatte auf der Ehemaligenliste der örtlichen Mädchenoberschule gestanden, die heute als schicke Gesamtschule daherkam. Aber niemand hatte auf die Anzeige reagiert, die sie in die Lokalzeitung gesetzt hatte, und auch Facebook oder Freunde-Suchseiten hatten keine Ergebnisse geliefert. Laura hatte offensichtlich den Kontakt zu ihren alten Schulfreunden verloren. Das war nichts Ungewöhnliches, besonders nach fast vierzig Jahren.
Es sah also so aus, als hätte sie keinerlei Anhaltspunkte, abgesehen von diesem Mittelmeerstrand …
Andrés zog sie ganz langsam enger an sich, bis ihre Wange an seinem Leinenhemd lag. Jeder Beziehung lag eine Abmachung zugrunde, ob unausgesprochen oder nicht. Und dies hier, wurde ihr klar, war etwas ganz anderes als der Vertrag, den sie mit James geschlossen hatte, ohne es zu ahnen. Sie brauchte nichts Bestimmtes zu sein . Dieser Mann nahm sie, wie sie war oder vielleicht sogar so, wie sie an einem unbestimmten Tag in der Zukunft sein würde. Er akzeptierte ihre Trauer. Er wollte nicht,
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