Julias Geheimnis
dass sie jemand anderes war.
Sie spürte sein Herz schlagen, fühlte seine Wärme. Er hatte so etwas Vertrautes, als wäre sie rückblickend ihr ganzes Leben lang ein wenig verloren gewesen, nicht am richtigen Platz, und nun hatte sie erstmals festen Boden unter den Füßen. Sie fühlte sich stärker als jemals seit dem Unfall. Sie hatte das Gefühl, wieder ein Ziel zu haben.
Als die letzten Töne verklangen und der Song vorüber war, ließ er sie los. Zögernd wich Ruby zurück. Sie schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln. Als sie zurück zur Bar gingen, sah er sie an, berührte ihre Hand, und es war, als würde ein Schalter in ihrem Inneren umgelegt. Es war, als ob der Schmerz ein wenig nachließ. Durch einen winzigkleinen Spalt fiel Licht ein, und etwas Neues, Hoffnungsvolles stieg in die Gegenwart empor.
Später am Abend brachte er Rubys nach Hause. Ihr neues Heim war klein, aber gemütlich. Es war genau das, was sie momentan brauchte. Unterwegs erzählte sie ihm, wie sie entdeckt hatte, dass sie nicht die Tochter ihrer Mutter war. In der Dunkelheit schien es möglich, darüber zu sprechen.Die Straßen waren still, und nur wenige der Fenster in den Häusern, an denen sie vorbeigingen, waren erleuchtet. Die meisten Menschen lagen schon im Bett und schliefen. Am dunklen Himmel stand nur eine schmale Mondsichel. Nach einem Schauer am Abend war das Pflaster feucht, aber die Luft fühlte sich frisch und sauber an. Nach all der lauten Musik und dem Tanz herrschte zwischen den beiden nun ein Gefühl von Frieden und Ruhe. Es war die richtige Zeit für Geständnisse. Ruby erzählte Andrés von der Schuhschachtel, die sie im Schrank gefunden hatte, von dem Brief des Arztes und von dem Familienalbum. Sie erzählte ihm, was Frances ihr berichtet hatte. Und sie erzählte ihm von Laura.
»Ich kann dir ein Bild zeigen«, sagte sie.
Sie hatten das Cottage erreicht und blieben unter einem Laternenpfahl stehen. Ruby zog die Fotos aus der Tasche. »Das ist sie«, erklärte sie. »Und das bin ich.«
»Sie ist wunderschön.« Andrés hielt das Foto ins Licht. Er runzelte die Stirn. »Weißt du, wo das Bild aufgenommen ist?«
»Ich habe keine Ahnung.« Sie stand hinter ihm und spähte über seine Schulter. »Es sieht aber nach einem ziemlich ungewöhnlichen Ort aus.«
»Es sieht aus wie Fuerteventura«, meinte Andrés. Er gab ihr das Bild zurück.
»Wirklich?« Nun, das Licht war schlecht. Der Strand konnte überall sein, oder? Sand und Meer und ein paar schwarze Felsen.
»Fuerteventura ist eine Insel, die solche Menschen anzieht«, sagte Andrés. Er legte den Arm um sie. Das fühlte sich gut an.
»Solche Menschen?«
»Surfer, Hippies, Aussteiger.« Er lachte leise. »Menschen, die VW -Campingbusse fahren.«
»Ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass sie irgendwo da draußen ist«, sagte Ruby. »Dass es irgendwo jemanden gibt, der einmal eine Entscheidung von solcher Tragweite für mein Leben getroffen hat.«
Andrés sagte nichts, aber er legte beide Arme um sie und zog sie an sich.
»Ich habe Angst«, gestand sie ihm. Ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt. »Es ist komisch. Sogar meine Erinnerungen scheinen mir nicht mehr zu gehören. Ich weiß nicht, wer ich bin.«
»Aber ich weiß, wer du bist, Ruby«, sagte Andrés.
Sie lag in seinen Armen. Viel fester als beim Tanzen, so eng, dass nichts mehr zwischen sie passte. So fest, dass sie nichts mehr als seine Wärme spürte. Und sie wollte mehr davon. Er brachte etwas in ihr zum Klingen; er machte sie schwindlig und erweckte in ihr den Wunsch, sich festzuhalten.
Behutsam löste sie sich aus seiner Umarmung und tastete in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Sie hatte ihn in ihr Leben gelassen, und jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie öffnete die Tür und drehte sich zu ihm um. Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn ins Haus.
29. Kapitel
A ndrés arbeitete in seinem Atelier, als sein Handy klingelte. Er fluchte halblaut. Aber der Anruf kam von seiner Mutter, daher musste er ihn annehmen.
»Mama?«
»Andrés.« Sofort nahm er die mühsam beherrschte Unruhe in ihrer Stimme wahr.
»Was ist passiert?« Eine ungute Vorahnung zog ihm den Magen zusammen. War sie krank? Oder Isabella? War …?
Seine Mutter seufzte. »Es geht um deinen Vater.«
Andrés erstarrte. »Was hat er?« Seine Stimme klang ausdruckslos. Er sah auf das Bild hinunter, an dem er arbeitete. Er hatte eine Hintergrundlasur in ganz blassem Blau aufgebracht. Darauf wollte er Chesil
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