Julias Geheimnis
»Sie haben natürlich recht. Auf der Insel gab es nicht allzu viel Arbeit. Ich hatte auch dort schon gelegentlich im Baugewerbe gearbeitet, aber hier … Hier gab es immer genug für mich zu tun. Ich habe Häuser renoviert – für andere und für mich selbst.«
Sie erreichten die Brücke, und er schaute über das Geländer hinunter ins Wasser, genau wie sie auf dem Hinweg. Ruby leuchtete ihm mit der Taschenlampe. Der Strahl schien einen Moment lang auf der Wasseroberfläche zu tanzen, dann war er verschwunden. »Dann haben Sie Ihre eigene Baufirma?«, fragte sie.
Im Dunkeln drehte er sich zu ihr um. Er hatte ihre Hand losgelassen, aber es war vollkommen töricht, sich deswegen beraubt zu fühlen. Dennoch empfand Ruby es so. »Sie besteht nur aus mir allein«, erklärte er. »Mit anderen arbeite ich nur zusammen, wenn ich sie brauche. Dann beauftrage ich vielleicht einen Elektriker oder einen Klempner. Die meisten Arbeiten erledige ich selbst.«
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, um daraus zu lesen, was er dachte. Funktionierte das mit Leuten, die anderen Völkern angehörten, anders? Hatten sie aufgrund ihrer unterschiedlichen kulturellen Prägung auch eine andere Mentalität, einen anderen Verhaltenscode? Nein, dachte sie. Im Gegenteil. An Andrés nahm sie etwas Vertrautes wahr, eine Ähnlichkeit. Sie hatten ja sogar in genau demselben Cottage leben wollen. Was sie nach der Auktion vor dem Rathaus abgestritten hatte, war tatsächlich wahr geworden: Zwischenihnen war eine Art Bindung entstanden. Hieß das, dass sie dabei waren, Freunde zu werden? Oder …? »Kennen Sie Tina und Gez schon lange?«, fragte sie.
Erneut nahm er ihren Arm. »Eine Weile.« Er schüttelte den Kopf. »Tina hat mich schon mit einer ganzen Reihe von Frauen zu verkuppeln versucht«, erklärte er betrübt. »Aber sonst ist sie eine gute Freundin.«
Ruby stellte sich die lange Reihe Frauen bildlich vor und lächelte. Wahrscheinlich kannte sie sogar einige der Bewerberinnen. »Manche Männer wären dankbar dafür.«
»Vielleicht«, meinte er. »Natürlich meinte ich nicht Sie, Ruby«, sagte er dann.
Sie quittierte das Kompliment mit einem schiefen Lächeln. Aber er war auch nicht »manche Männer«. »Sie war auch nett zu mir«, fügte sie hinzu. Tina war mitfühlend gewesen, aber nicht übertrieben. Sie hatte Ruby eine starke Schulter angeboten, aber nicht darauf bestanden, dass sie sich daran anlehnte.
Der Weg wurde schmaler. Eigentlich hätte es ihr nun viel zu eng werden müssen, aber das tat es nicht. »Ich vermute mal, die beiden meinen, man müsse mich ins Land der Lebenden zurückholen. Daher die Einladung zum Essen. Und Sie.«
»Zurückholen … woher?«
Eine Wolke schob sich vor den Mond.
Von der dunklen Seite, dachte sie. »Vor ein paar Monaten sind meine Eltern gestorben. Hat Tina Ihnen das nicht erzählt?« Man hätte ihn angesichts einer solchermaßen geschädigten Bewerberin vorwarnen sollen.
Er verlangsamte seinen Schritt, aber sie wollte nicht, dass er jetzt stehen blieb, und ging weiter.
»Sie fehlen Ihnen sicher sehr«, sagte er.
»Es geht weniger darum, dass sie mir fehlen.« Ruby stellte fest, dass sie das genauer erklären wollte. »Ich habe sie nur alle paar Monate gesehen.« Dadurch, dass sie in London wohnte, hatte sie sich schon ein Stück von ihnen entfernt. »Es geht um eine grundlegendere Ebene.« Womit konnte sie das vergleichen? Dass einem der Boden unter den Füßen – oder der Stuhl unter dem Hintern – weggezogen wurde? Man mochte das Muster des Teppichs oder das Polster auf dem Stuhl schon längst nicht mehr wahrgenommen haben, aber man wusste, dass es da war, und betrachtete es als selbstverständlich. Und man merkte, wenn man das Gleichgewicht verlor und hinfiel.
Aber Andrés senkte den Kopf. »Ich verstehe«, sagte er.
Kurz darauf wurde der Weg wieder breiter, und sie erreichten die Straße. Ruby zeigte in Richtung High Street, und sie überquerten die Straße. Obwohl sie nicht beleuchtet war, war es hier weniger dunkel. Das lag vielleicht an den Häusern und den geparkten Autos. Außerdem war die Wolkendecke am Himmel in der Zwischenzeit aufgerissen. Als sie zur Kirche kamen, zog auch die letzte Wolke davon, und vor dem mondhellen Himmel hob sich die beeindruckende Silhouette des Turmes ab. Wow …
Auch Andrés war stehen geblieben. »Wenn ich das nur malen könnte«, murmelte er.
»Dann sind Sie auch Künstler?« Ruby sah ihn an. Sie konnte sein Gesicht nicht
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