Julias Geheimnis
erkennen. Sie dachte an Vivien. Was stand in dem Brief, den sie für Ruby hinterlassen hatte? Und warum hatte sie es ihr nicht von Angesicht zu Angesicht gesagt?
»Ja. Ich arbeite in einem der Ateliers in der Nähe des Kunstzentrums.«
Wie seine Arbeiten wohl aussahen? Ruby versuchte, es sich vorzustellen. Sie würde seine Bilder gern sehen. Sie standen nun so dicht beieinander, dass sie sich fragte, ob er sie küssen würde. Und wenn … Was würde sie dann tun?
Doch er trat einen Schritt zurück, und sie setzten ihren Weg fort, vorbei an den dunklen Steinhäuschen und über den Parkplatz. Erneut schwiegen sie. Er war nicht gerade der Mitteilsamste, dachte Ruby. Es würde nicht leicht werden, ihn besser kennenzulernen. Aber auf der anderen Seite hatte sie sich in den letzten Wochen daran gewöhnt, Geheimnisse zu lüften.
»Hier wohne ich«, erklärte sie, als sie ihr Haus erreichten. Sie würde ihn nicht hineinbitten. Es war spät, und sie war müde. Und sie wusste auch noch nicht so recht, was sie von Andrés Marín halten sollte. Was war mit den anderen Frauen, mit denen Tina ihn verkuppeln wollte? Hatte er die auch nach Hause gebracht? Hatte er ihnen von seiner Malerei und seinem Vater erzählt?
»Ich kenne ein Cottage an der Pride Bay, das demnächst vermietet wird«, sagte er. »Wenn Sie Lust haben, kann ich mit Ihnen hinfahren. Es gehört einem meiner Kunden, und ich glaube, er hat noch keine Anzeige aufgegeben.«
»Oh.« Das musste er vorhin gemeint haben. »Wann wollen Sie denn hin?«
Er runzelte die Stirn – und legte die Hände auf ihre Schultern.
Und was, wenn er mich küsst , dachte Ruby wieder. Sie sah zu ihm auf.
Er küsste sie auf beide Wangen, einmal, zweimal. Nichts weiter. Sie nahm seinen Geruch wahr – es erinnerte siean Baumharz – und spürte seinen warmen Atem auf ihrer Wange.
»Würden Sie einen Spaziergang mit mir machen? Vielleicht nächstes Wochenende? Dann könnten wir uns auch das Cottage ansehen.«
»Gern.« Sie stimmte lieber rasch zu, bevor sie Zeit hatte, nach Gründen für eine Ablehnung zu suchen. Denn er bedeutete Komplikationen, anders konnte es nicht sein, und sie konnte keine Komplikationen in ihrem Leben gebrauchen. Es gab ohnehin schon so vieles, was sie bewältigen musste. Sie wollte sich auf niemanden einlassen. Es schien ihr der falsche Zeitpunkt zu sein. Andererseits …
»Sagen wir Samstagmorgen um elf?«
Sie nickte. »Okay.«
»Ich freue mich darauf.« Endlich lächelte er.
Ruby starrte auf seinen Mund und auf den leicht schiefen Eckzahn, der ihn irgendwie noch attraktiver machte. War sie jetzt vollkommen verrückt geworden?
»Gute Nacht, Ruby.«
»Gute Nacht, Andrés.«
Dann hob er die Hand, winkte und verschwand in der Dunkelheit.
23. Kapitel
A m Samstag holte Andrés Ruby mit dem Lieferwagen ab. Er hatte es nie für notwendig gehalten, sich ein anderes Auto zu kaufen als das, das er für die Arbeit gebrauchte. Doch heute waren ihm der Zementstaub und der Beutel voller Werkzeuge ein wenig unangenehm. Dabei hatte er den Wagen zu Hause schon ein bisschen sauber gemacht. Nervös war er auch.
Ruby öffnete die Haustür, bevor er überhaupt aus dem Lieferwagen gestiegen war. Entweder konnte sie es kaum abwarten, ihn zu sehen – was unwahrscheinlich war –, oder sie wollte es nicht riskieren, ihn ins Haus bitten zu müssen. Andrés seufzte. Warum ärgerte er sich eigentlich so? Er war doch derjenige, der angeblich nicht an einer Beziehung interessiert war – jedenfalls nicht an dieser Art von Beziehung, an einer Beziehung, die eindeutig verzwickt werden konnte. War Ruby ein Teil des Spinnennetzes? Würde sie sein neues Projekt sein, nachdem jemand anderes das Cottage gekauft hatte, das er bei der Auktion ersteigern wollte? Ha, schön wär’s.
Tina hatte ihn am Morgen nach ihrem Essen angerufen, als er gerade auf einer Leiter stand, um einen feuchten Fleck von der Größe eines Fußballs an der Decke des Wohnzimmers der alten Martha Hutton zu untersuchen. Behutsam klopfte er mit dem Hammer um den Fleck herum – es konnten Rohre oder Stromkabel dahinter verlaufen. Andererseits konnte er auch gleich ein Loch schlagen; diesen Teil der Decke würde er ohnehin erneuern müssen. Martha hattenicht viel Geld, daher würde er nur ein Loch machen, das groß genug war, um sich die Sache anzusehen und wenn möglich herauszufinden, woher das Wasser kam.
Plötzlich klingelte sein Handy.
Er angelte das Telefon aus der hinteren
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