Julias Geheimnis
erklärte Andrés. »Ich hatte Sie wie gesagt schon einmal im Jazz-Café gesehen. Ich hatte das Gefühl …« Er unterbrach sich, und Ruby wartete. »Sie zu kennen.«
Ruby drehte ihr Weinglas in den Händen. Sie wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte, und Tina und Gez waren in die Küche verschwunden. »Und was haben Sie jetzt vor?«, fragte sie.
»Vorhaben?« Er setzte sein Glas an die Lippen.
»Sich ein anderes Cottage suchen?«
Er zuckte die Achseln. »Das kann warten. Häuser werden immer wieder angeboten. Aber was ist mit Ihnen, Ruby? Hatten Sie vor, dort einzuziehen?«
Sie dachte an die Aussicht. »Oh ja.«
»Und Sie wollten die ganze notwendige Renovierung selbst übernehmen?« Sie wusste, dass er sie jetzt aufzog.
Vielleicht hatte er ja recht. Vielleicht war ihr Plan unrealistisch gewesen. Sie hatte den Meerblick aus dem Fenster im ersten Stock gesehen und dann einfach die Augen davor verschlossen, wie viel an dem Haus noch zu tun war. »Es war nur ein Traum«, sagte sie. Ein Traum aus ihrer Kindheit, ein Traum von etwas, an das sie sich zu erinnern versuchte, das sie festhalten wollte, bevor es für immer verschwand. Und nun, nachdem sie mit Frances gesprochen hatte … War es jetzt für immer verloren? Sie hoffte nicht. Kurz bevor Frances an jenem Abend wieder abgereist war, hatten sie vor dem Restaurant gestanden, und Frances hatte Ruby noch einen Umschlag gegeben.
»Ein Brief von deiner Mutter«, erklärte sie. »Von Vivien«, schob sie nach.
Ruby hatte einen Blick darauf geworfen. Darauf stand ihr Name in großen, geschwungenen Buchstaben. Sie schluckte schwer, als sie die Handschrift ihrer Mutter sah. »Danke.« Sie hatte den Umschlag bis jetzt noch nicht geöffnet. Sie hatte ihn auf das Kaminsims gestellt und sah ihn jedes Mal an, wenn sie ins Wohnzimmer ging. Aber sie hatte ihn nicht geöffnet. Sie war immer noch zu zornig.
»Aha, ein Traum …« Andrés nickte.
Als wüsste er alles über Träume, dachte Ruby. »Ich finde schon etwas anderes«, sagte sie. Es war ein wunderhübsches Cottage und ein nostalgischer Traum. Aber offensichtlich sollte es nicht sein.
»Vielleicht kann ich …«
Doch er wurde unterbrochen, als Tina und Gez, bewaffnet mit einer zweiten Flasche Wein und weiteren Tellern, wieder in den Raum traten. Aus dem Augenwinkel nahm Ruby wahr, wie sie einen Blick wechselten. Zweifellos stellten sie selbstzufrieden fest, dass ihre Gäste sich gut verstanden. Vorsicht, Ruby, dachte sie.
»Vielleicht kann ich Ihnen in dieser Hinsicht ja helfen«, fuhr Andrés fort.
Ruby sah ihn erstaunt an. Er trug ein blaues Hemd mit offenem Kragen und Jeans. Die Beine hatte er unter dem Tisch bis auf ihre Seite ausgestreckt. Sie konnte seine braunen, locker geschnürten Lederstiefel sehen. »Wirklich?« Sie musste eine Wohnung finden, je eher, desto besser. Sie musste vor all diesen Geistern flüchten.
Gez stellte Teller für den Hauptgang auf den Tisch. Tina hielt eine Auflaufform in riesigen Topfhandschuhen, stellte sie mitten auf den Tisch und nahm den Deckel ab. Eine nach Kräutern und Wein duftende Dampfwolke stieg auf.
»Auf geht’s«, sagte Tina.
»Das riecht lecker.« Mit einem Mal wurde Ruby klar, dass sie völlig ausgehungert war.
»Gut.« Tina reichte Ruby eine Schüssel mit dampfendem Reis. »Bedien dich einfach.«
Andrés teilte den Rinder-Schmortopf aus. Er sah so gut aus, wie er roch: winzige Schalotten, verlockend schimmernde Pilze und dicke Fleischstücke in einer großzügig mit Wein gewürzten Sauce. »Ruby?«
Sie hielt ihm ihren Teller hin. »Danke.«
»Ruby schreibt«, sagte Gez. »Sie ist Journalistin. Hat sie dir davon erzählt?«
»Nein.« Der Servierlöffel blieb in der Luft hängen. »Was schreiben Sie?«
»Oh …« Einer seiner Eckzähne war leicht schief, und er hatte hohe, beinahe slawisch wirkende Wangenknochen. Und er sah sie auf eine irgendwie vertrauliche Art an, dieihr höllische Angst machte. Schnell sah sie auf die Auflaufform hinunter und auf die gebräunte Hand, die den Löffel mit dem himmlischen Rindfleischeintopf hielt. »Größtenteils Artikel für Zeitschriften«, erklärte sie. »Und Songs.«
Als Ruby einige Zeit später auf die Uhr sah, stellte sie erstaunt fest, dass es fast ein Uhr morgens war. Sie hatte vorgehabt, sich früh zu entschuldigen und noch vor Mitternacht zu gehen. Doch die Zeit war nur so verflogen, und sie hatte den Abend genossen. Sie hatte geredet, gelacht, ja sogar ein wenig geflirtet. Warum
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