Julias Geheimnis
Hosentasche.
»Andrés?«
»Hi, Tina.« Er setzte sich auf die Leiter und legte seinen Hammer weg. Mit diesem Anruf hatte er gerechnet, aber er hatte nicht vor, es ihr leicht zu machen.
»Du bist mir doch nicht böse, oder?«
Andrés lächelte. »Du hast es versprochen – keine Verkupplungsversuche mehr. Waren wir uns da nicht einig?« Er blickte zu dem schwarzen Loch in der Stuckdecke hoch. Martha würde einen Anfall bekommen.
»Aber diesmal war es etwas anderes, oder?«
Ja, dachte er, es war etwas anderes. »Meinst du?«
»Das weiß ich.« Sie lachte. »Ich weiß doch noch, wie interessiert du warst, als Ruby im Jazz-Café gespielt hat. Trotzdem hatte ich keine Ahnung, dass du ihr schon einmal begegnet bist und sogar schon mit ihr gesprochen hast, du stilles Wasser.«
Stilles Wasser? Also, die englische Sprache verblüffte Andrés immer wieder. »Und du dachtest, du hättest eine nette Überraschung für mich?«, fragte er.
»Genau.«
»Und Ruby?«
»Ruby?«
Er hatte ihre Miene gesehen, als sie hereingekommen war. Und zwar ihre Miene, bevor ihr klargeworden war, dass ihr Blind Date niemand anderer war als der Mann, der bei der Auktion gegen sie gesteigert hatte. Sie war entsetzt gewesen.Und als sie dann auch noch Andrés gesehen hatte … Also, sie hatte ausgesehen, als stehe sie ihrem schlimmsten Albtraum gegenüber.
»Mit Ruby habe ich noch nicht gesprochen«, räumte Tina ein. »Aber ich habe nur versucht, sie aufzumuntern. Sie hat eine so schwere Zeit hinter sich.«
»Und dazu bin ich der Richtige?«, erkundigte sich Andrés.
»Du kannst witzig sein, wenn du dir Mühe gibst«, sagte Tina.
»Du bist so charmant.« Aber Andrés wusste, dass Tina nur das Beste wollte – für Ruby und ihn. Sie war nett, auch wenn sie der Meinung war, dass man nicht glücklich sein konnte, wenn man nicht die Hälfte eines Paares war.
»Außerdem hat es bei euch ja offensichtlich gleich gefunkt«, sagte sie.
»Gefunkt?« Das klang für Andrés eher negativ als positiv, aber das war wohl wieder eine der Seltsamkeiten der englischen Sprache.
»Ich habe Ruby noch nie so lebhaft gesehen«, setzte Tina hinzu. »Und du …«
»Was ist mit mir?«
»Na ja, du warst eindeutig hingerissen. Das haben Gez und ich beide gesehen. Du warst vollkommen hin und weg.«
»Hin und weg?« Andrés runzelte die Stirn. Schon wieder so ein Ausdruck.
»Und …?«
»Was, und?« Aber er wusste, worauf sie aus war. Auf Informationen. Doch er hatte nicht vor, ihr den Gefallen zu tun, jedenfalls noch nicht. »Danke für das Abendessen, Tina«, sagte er. »Und dafür, dass du mich Ruby vorgestellt hast. Ich bin dir sehr dankbar.«
»Und?«
»Was, und?«
»Und was passiert jetzt, Andrés?«
»Jetzt passiert Folgendes, Tina«, erklärte er. »Ich werde meinen Hammer nehmen und versuchen, ein Loch in die Decke über mir zu schlagen.«
»Ach.« Sie klang enttäuscht. »Und was ist mit Ruby?«
»Was ist mit ihr?« Andrés genoss es, sie zu foppen. Für gewöhnlich gingen solche Scherze auf seine Kosten.
»Ich hatte mich bloß gefragt …«
»Was gefragt?«
»Wie der Heimweg war. Hast du ihr einen Gutenachtkuss gegeben? Wirst du sie wiedersehen? Weiter nichts.«
»Weiter nichts?« Er lachte.
»Und alles andere, was du mir vielleicht erzählen willst«, fügte sie hinzu.
»Ich werde es mir überlegen«, sagte Andrés. »Aber jetzt …«
»Ja?«
»Jetzt muss ich wieder an die Arbeit.«
Er verabschiedete sich und grinste, während er das Handy wieder in die Tasche steckte. Ja, Ruby war ein Rätsel. Merkwürdig, dachte er, dass er ihr überall begegnete. Am Hide Beach, im Jazz-Café, bei der Auktion und schließlich bei Gez und Tina. War das vielleicht ein Zeichen? Er hatte nie an Zeichen geglaubt, so wie seine Mutter und seine Schwester es taten. Auf der Insel schienen die alten Geschichten und Legenden fest mit der weiblichen Psyche verwoben zu sein. Er wusste, dass die Urbevölkerung, die Guanchen, eine sehr spirituelles Volk gewesen waren. Es stimmte, Andrés hatte schon manchmal einen Sog verspürt, den er sich nicht ganz erklären konnte – und ein wenig war es mit Ruby auch so gewesen. Was war das? Seine Intuition vielleicht? Ein tief verwurzelter Instinkt? Wer wusste das schon? Er zog es vor, den Dingen ihren Lauf zu lassen und mit dem Wind zu segeln.
Er nahm seinen Hammer und schlug behutsam an die Decke. Das hier musste man ganz vorsichtig angehen.
Vielleicht verhielt es sich mit Ruby ja genauso. Er
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