Julias Geheimnis
auch nicht? Sie hatte Spaß. Sie fühlte sich, als sei sie nach einem langen Schlaf wieder aufgewacht.
Sie sah zu Andrés hinüber, der sein Glas in ihre Richtung hob. Ihre Blicke trafen sich, und dieses Mal fiel es Ruby schwer, wieder wegzuschauen. Verdammt, warum nur? Sie war nicht wegen dieses attraktiven Fremden aufgewacht. Natürlich nicht. Und doch …
»Ich muss gehen.« Sie stand auf. »Das war ein wunderbarer Abend«, sagte sie und meinte es ganz ernst. Halleluja, dachte sie. Sie umarmte Gez und Tina, wusste aber nicht recht, wie sie sich von Andrés verabschieden sollte.
Er stand ebenfalls auf. »Ich könnte Sie nach Hause begleiten«, erbot er sich. »Es ist ein milder Abend. Oder würden Sie lieber mit dem Taxi fahren?«
Etwas – die Aussicht, nach Hause zu gehen? – ließ ihn wieder steif und höflich wirken. Ruby lächelte. »Ich kann alleine gehen, keine Sorge.« Sie nahm ihre Tasche.
»Aber ich bestehe darauf.« Er sah beflissen aus. »Ich finde, ein Gentleman sollte eine Dame nach Hause bringen.« Er nahm Gez ihre Jacke ab, die dieser schon aus der Diele geholt hatte, und hielt sie ihr auf.
»Na gut, okay. Danke.« Sie drehte sich um und schlüpfte hinein.
Als sie nach draußen trat, spürte sie die Nachtluft kühl auf ihrem Gesicht. Es fühlte sich gut an. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und winkte noch einmal zum Abschied. Gez und Tina standen auf der Türschwelle und sahen den beiden nach wie stolze Eltern. Gez stand hinter Tina und hatte die Arme um sie geschlungen. Ruby wusste genau, dass die beiden noch lange diskutieren würden, bevor sie ins Bett gingen.
»Wo müssen wir hin?« Andrés stand wartend auf dem Weg zum Fluss.
Sie zeigte in die richtige Richtung. »Ich habe eine Taschenlampe dabei.« Sie kramte in ihrer Handtasche danach.
»Sie sind sehr gut organisiert. Ich hatte gar nicht daran gedacht. Hergekommen bin ich mit dem Wagen, aber …«
Sie nickte und zog triumphierend die Taschenlampe hervor. Ja, wahrscheinlich hatten sie alle viel mehr getrunken, als sie vorgehabt hatten.
Nach kurzem Zögern nahm er ihre Hand und steckte sie unter seinen Arm. Ein Engländer hätte das nicht getan, aber Ruby gefiel es. Es fühlte sich warm und sicher an. Sie fühlte sich warm und sicher. Was genauso albern war. Vorsicht, Ruby …, rief sie sich noch einmal ins Gedächtnis.
Sie nahm die Taschenlampe in die freie Hand und leuchtete ihnen den Weg. Ihr Licht erhellte nicht viel mehr als das wenige Gras und den Schlamm, aus dem der Pfad bestand, würde aber wenigstens verhindern, dass sie in den Fluss fielen. »Ich war bei den Pfadfindern«, scherzte sie. »Allzeit bereit.«
Er lachte. Sein Gang war leicht und beschwingt, und sie verfiel automatisch in sein Schritttempo.
»Auf der Insel gab es auch Jugendgruppen«, meinte er. »Die Kinder dort treiben alle Arten von Sport. Fußball ist beliebt. Tennis. Tanz.« Sie spürte, wie er lächelte. »Und Trommeln.«
»Die Insel?«
»Fuerteventura, eine der Kanarischen Insel.« Er sagte es mit betrübtem Unterton. »Ich bin ein Majorero .«
» Majorero ?«
Er zuckte die Achseln. »So nennt man die Ureinwohner von Fuerteventura. Wörtlich bedeutet es ›Menschen, die früher Schuhe aus Ziegenleder trugen‹.«
Ruby lächelte. Das gefiel ihr. »Warum sind Sie fortgegangen?«, fragte sie.
Es war eine einfache Frage, und doch verstummte er und schwieg eine gefühlte Ewigkeit lang. Im Gehen betrachtete Ruby die Bäume, die sich auf den Pfad zuzuneigen schienen, als wollten sie ihrem momentan stockenden Gespräch lauschen. Es war so dunkel, dass sie den Fluss nur hören konnte. Der Boden vor ihnen flimmerte, als sei er nicht länger fest. Schatten, dachte sie. Der Grund musste verflixt kompliziert sein.
»Ich habe mich nicht gut mit meinem Vater verstanden«, erklärte er schließlich. »Etwas ist passiert, und wir haben uns gestritten. Dann bin ich nach England gekommen.«
»Um Ihr Glück zu machen?« Ruby versuchte, unbefangen zu klingen. Das war offensichtlich die abgekürzte Version gewesen. Sie hatte den Eindruck, dass Andrés’ Vater kein gutes Gesprächsthema war.
Und richtig, sie spürte, wie er sich entspannte. »In meinen Träumen.«
Auch bei ihm ging es um Träume, fiel ihr auf. »Wenigstenshaben Sie sich so gut geschlagen, dass Sie sich ein Cottage in Dorset leisten können«, meinte sie.
Erneut spürte sie, dass er lächelte. Ihre ziemlich persönliche Bemerkung schien ihn nicht beleidigt zu haben.
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