Julias Geheimnis
erinnerte sich daran, wie sie am Tag der Auktion auf ihn gewirkt hatte. Sie war ungehalten, ja beinahe wütend gewesen. Und sie hatte verzweifelt versucht, nicht in Tränen auszubrechen, während sie auf ihrem albernen Riesenfahrrad unsicher davongefahren war.
Er hatte nicht gewollt, dass sie über den Feldweg und aus seinem Leben verschwand. Sogar damals schon hatte er den Wunsch verspürt, sie in die Arme zu nehmen, damit es ihr besser ging, obwohl dieser Impuls ihn verblüfft hatte. Auch als sie nach dem Essen bei Gez und Tina nach Hause gegangen waren, hätte er am liebsten den Arm um sie gelegt. Und als sie an ihrem Haus angekommen waren und sie zu ihm aufgesehen hatte, um gute Nacht zu sagen … Da hatte er sich sehr beherrschen müssen, um sie einfach nur auf die Wange zu küssen und nach Hause zu gehen …
Und jetzt? Er war sich nicht ganz sicher, was er tun sollte. Er war doch nicht auf der Suche nach jemandem, oder? Er dachte an seinen Vater in seinem Atelier, wie er wild die Farbe auf die Leinwand klatschte oder sanfte, raffinierte Porträts malte, mit einer subtilen Leidenschaft, die knapp unter der Oberfläche glühte und doch für das bloße Auge kaum sichtbar war. Nein.
Das Loch in der Decke war jetzt so groß, dass Andrés seine Hand hineinstecken und herumtasten konnte. Kabel schienen hier nicht zu liegen, daher schlug er gegen die Ränder,um das Loch ein wenig zu erweitern. Dieses Mal traf der Hammer auf etwas Festes. Hmmm. Er klopfte noch ein wenig weiter.
Was mochte bei Ruby unter der Oberfläche liegen, fragte er sich unwillkürlich. Er hatte ihr keine Angst einjagen wollen. Sie erinnerte ihn an ein wildes Tier, stark, aber verletzlich. Stärker, als ein Mann vielleicht glaubte. Verletzlicher, als er sie vielleicht sah. Leicht zu erschrecken. Er musste ruhig bleiben, langsam vorgehen und warten, bis sie zu ihm kam. Tina hatte recht, sie hatte viel durchgemacht. Er musste geduldig sein und darauf warten, dass sie lernte, ihm zu vertrauen. Das war der richtige Weg.
Aber wollte er überhaupt, dass Ruby zu ihm kam? Wollte er sich wirklich auf eine Beziehung mit einer Frau einlassen, die ihm etwas bedeuten würde? Seit er seine Insel verlassen hatte und nach England gekommen war, hatte er immer nur kurze Beziehungen zu Frauen gehabt, die zwar ganz nett waren, die er aber niemals lieben würde. Bedeutungslose Techtelmechtel, wie Tina es nannte. Es waren oberflächliche Frauen gewesen, ungefährliche Frauen, die ihn nie berühren oder verletzen könnten. So war es das Beste. Tina nannte ihn einen Verpflichtungs-Phobiker, und vielleicht hatte sie recht. Vielleicht hatte Andrés sich zu sehr an das Junggesellenleben gewöhnt.
Und doch … Er dachte daran, wie Ruby aussah, wenn sie ihr Saxofon spielte, und er erinnerte sich an die Traurigkeit in ihren Augen. Wollte er, dass sie zu ihm kam? Ja, dachte er.
Jetzt sah er, was die Ursache für den Fleck an der Decke war. Über ihm verlief ein Kupferrohr, und dieses hatte, wie es aussah, eine lecke Kompressionsdichtung. Das leuchtete ein. Das Rohr war vermutlich in den 1960er Jahren eingebaut worden, vielleicht als Kaltwasserzufuhr für das Badezimmer im oberen Stockwerk. Mit solchen Rohren gab es oft Probleme.
Dann sah Andrés noch etwas anderes und erkannte, was sich eben so fest angefühlt hatte. Er sah etwas, das wie ein Teil eines Holzbalkens wirkte. Und als er mit den Fingern danach tastete, spürte er den Balken. Er war ungefähr zwanzig Zentimeter breit. Ursprünglich musste das eine alte Balkendecke gewesen sein; und dann hatte jemand darunter eine andere Decke eingezogen – im Namen der Modernisierung in reinstem, strahlendem Weiß.
Bevor er weitermachte, musste er mit Martha Hutton reden. Er könnte die ganze neue Decke entfernen und die alten Balken sandstrahlen lassen, um den natürlichen Holzton wiederherzustellen. Oder er konnte das Leck einfach abdichten und wieder zumachen. Er vermutete, dass es eine Frage des Geldes sein würde. Doch er würde Martha erklären, dass eine Balkendecke sowohl den Charakter des Hauses verstärken als auch seinen Wert erhöhen würde. Holzbalken waren etwas Besonderes. England war ein Land, dessen Wälder nicht von Mensch und Natur vernichtet worden waren wie auf der Insel, auf der Andrés geboren war. Heute war nichts mehr von dem zu sehen, was sie einst gewesen war: ein Land voller Bäume, Flüsse und Bäche. Jetzt war das Land trocken wie eine Wüste. Ach, so vieles hatte sich
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